Interview
Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen
Schwere Kindheit
Als Baby ein Wonneproppen, als Teenie ein Pummelchen: Rund 9,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen drei und 17 Jahren sind hierzulande übergewichtig, weitere sechs Prozent adipös, und die Zahlen steigen. Wir sprachen mit Prof. Dr. Martin Hoffmann über Süßes mit bitteren Folgen, über Kalorienzählen ohne Ergebnis – und darüber, wie Eltern, Medizin und Politik helfen können, Gewichtsprobleme zu lösen. Plus: Adressen und Informationen zu Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen.
ca. 10 Minuten
*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.
Foto: Wix
„Bildung, Burger, Bildschirm, die drei Bs spielen entscheidende Rollen für das Gewicht von Kindern und jungen Leuten.“
Foto: Asklepios Kliniken
Professor Dr. Martin Hoffmann ist Spezialist für Adipositaschirurgie, Refluxchirurgie, Darmchirurgie und Darmkrebs. Als Chefarzt der Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasiven Chirurgie der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden leitet er auch das Adipositaszentrum, das als Kompetenzzentrum für Adipositas- und metabolische Chirurgie zertifiziert ist. Zum Team gehören Endokrinologen, Orthopäden, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ernährungsmediziner, Ökotrophologen, Viszeralchirurgen und Ärzte für plastisch-rekonstruktive Eingriffe. Pro Jahr werden rund 600 Menschen stationär und ambulant behandelt, dazu kommen die Patientinnen und Patienten in der Nachsorge. Kontakt und mehr Informationen.
Jeden zweiten Freitag im Monat trifft sich im Bistro Vital der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden die Adipositas Selbsthilfegruppe Wiesbaden.
Gesundheitskompass für Wiesbaden: Ab welchem Punkt ist Übergewicht bei Kindern nicht länger niedlich, sondern gesundheitlich bedenklich?
Prof. Dr. med. Martin Hoffmann: Der Punkt lässt sich in der sogenannten Perzentilenkurve ablesen. Sie zeigt die alters- und geschlechtsspezifischen Durchschnittswerte für Größe, Gewicht und Kopfumfang von Kindern in Deutschland an. Bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen werden die individuellen Werte eingetragen. Liegt das Gewicht jenseits des oberen Normalwerts, ist das Kind übergewichtig.
Gesundheitskompass: Bei Erwachsenen gibt es Abstufungen des Übergewichts, abhängig vom BMI, dem Body-Mass-Index. Liegt er über 25, ist man übergewichtig, ab 30, spricht man von Adipositas Grad 1, über 34,9 von Adipositas Grad 2, über 39,9 von Adipositas Grad 3. Ist das bei Kindern vergleichbar?
P.M.H.: Ja, bei Kindern ist es üblicherweise der BMI-Perzentil-Wert, der sich in der Perzentilenkurve ablesen lässt. Übergewicht beginnt bei mehr als 90, Adipositas bei mehr als 97, extreme Adipositas bei mehr als 99,5.
Gesundheitskompass: Studien belegen, dass Babys, die mit mehr als 4000 Gramm zur Welt kommen, ein erhöhtes Risiko haben. Beginnt das Problem bereits vor der Geburt?
P.M.H.: Übergewicht ist nicht zwangsläufig genetisch vorbestimmt, es gibt jedoch Faktoren, die es begünstigen. Dazu zählt starkes Übergewicht oder eine Adipositas der Mutter. Auch andere Erkrankungen der Schwangeren können eine Rolle spielen, darunter Gestationsdiabetes (Anm.: Schwangerschaftdiabetes) und Präeklamsie und Eklamsie (Anm: schwangerschaftsbedingter Blutdruckanstieg, der in schweren Fällen u.a. zu Krämpfen führen kann).
Gesundheitskompass: Kann sich auch Verhalten werdender Mütter auswirken?
P.M.H.: Ja. Es gibt Studien zum Bewegungsmangel. Vereinfacht gesagt gilt, je gesünder die Schwangere lebt, desto kleiner ist das Übergewichtsrisiko für das Kind. Auch Stillen wirkt sich positiv aus.
Gesundheitskompass: Über Verhalten und Ernährung werden Eltern bei den kinderärztlichen Vor- und Nachsorgeuntersuchungen, von Hebammen und Krankenkassen umfangreich informiert. Warum erreicht die Aufklärung so viele Eltern nicht?
P.M.H.: Da kommt einer der Hauptfaktoren für Übergewicht im Kindes- und Jugendalter ins Spiel, die soziale Herkunft. Es ist hierzulande vor allem ein Problem der bildungsfernen Kreise, die Beratungsangebote weniger wahrnehmen. Unabhängig vom Alter, gehört die Mehrzahl unserer Patientinnen und Patienten dieser Gruppe an, darunter viele mit Migrationshintergrund.
Gesundheitskompass: Was sind weitere Hauptfaktoren für kindliches Übergewicht?
P.M.H.: Es gibt die sogenannten drei Bs, neben der Bildung, sind es Burger und Bildschirm.
Gesundheitskompass: Burger steht für fettes, zuckerreiches Fastfood?P.M.H.: Ja. Wenn ich durch die Stadt laufe, kommen mir jedes Mal junge Menschen entgegen, überwiegend Männer, die riesige Becher voller Softdrinks in der Hand halten. Ich denke dann immer, du meine Güte! Zuckerhaltige Getränke, also Limonaden, Cola, Energy Drinks, aber auch Obstsäfte, und zuckerhaltige Snacks wie Quetschies, Riegel, süßes Obst sind Hauptursachen bei ernährungsbedingter Diabetes und Übergewicht.
Gesundheitskompass: Die Politik plant, Werbung für besonders zuckerhaltige Nahrungsmittel und Getränke, die sich an Kinder richtet, zu verbieten. Was halten Sie davon?
P.M.H.: Das ist gut gemeint. Man kann natürlich Spots im Kinderfernsehen oder zu bestimmten Uhrzeiten oder im Umfeld von Sportübertragungen verbieten. Ich fürchte aber, das bringt wenig.
Gesundheitskompass: Warum?
P.M.H.: Für viele Firmen ist Fernsehwerbung für diese Zielgruppe längst uninteressant. Kinder und junge Leute sind überwiegend in sozialen Medien unterwegs. Viel wichtiger ist ihnen, was Influencer sagen. Wie wollen Sie einer junge Frau aus den USA oder aus Südkorea untersagen, vor ihrer laufenden Handy-Kamera in einen Schokoriegel zu beißen und ,mhh, lecker' zu sagen?
Gesundheitskompass: Mit dem Handy sind wir beim dritten B, der Bildschirmzeit. Wieviel ist für das Gewicht der Kinder unbedenklich?
P.M.H.: Das ist schwierig zu quantifizieren. Gemäß SK2-Leitlinie der Expertenverbände, sollen Kinder unter drei Jahren gar nicht vor einem Bildschirm sitzen, bis zu sechs Jahren maximal 30 Minuten pro Tag, bis elf Jahre 60 Minuten und ab zwölf Jahren 120 Minuten. Je weniger Bildschirmzeit, desto mehr Zeit bleibt für Bewegung.
Gesundheitskompass: Die Empfehlungen für Bewegungszeiten sind drei Stunden über den Tag verteilt für Kinder ab dem Vorschulalter und anderthalb Stunden für Kinder ab sechs. Während des Lockdowns, als die Zeiten nur schwer zu erreichen waren, ist die Anzahl der übergewichtigen Kinder und jungen Leute weltweit deutlich angestiegen. Warum hält die Aufwärtstendenz an?
P.M.H.: Die Pandemie hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich Lebensgewohnheiten verändert haben. So spielen Monitore im Familienalltag eine größere Rolle. Kinder, die im Restaurant vor ihrem Teller sitzen und gleichzeitig in einen Bildschirm vertieft sind, sind ein normaler Anblick geworden.
Gesundheitskompass: Man könnte argumentieren, dass es doch besser ist, während des Essens zu daddeln oder Filme zu gucken, denn dann bleibt davor und danach mehr Zeit für Bewegung.
P.M.H.: Das trifft natürlich nicht den Kern des Problems. Zum einen nimmt man im Schnitt 150 Kilokalorien mehr zu sich, wenn man beim Essen vor einem Bildschirm sitzt. Sie können ausrechnen, wozu dieses in früher Kindheit erlernte Verhalten in Jahren und Jahrzehnten führen kann.
Gesundheitskompass: Und zum anderen?
P.M.H.: Zum anderen ist Essen in vielen Familien zur Nebensache geworden. Es ist zunehmend seltener geworden, Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen und als wertvolle, gemeinschaftliche Erfahrung zu erleben. In England gibt es immer mehr Wohnungen ohne Küche. Und auch bei uns kaufen viele Menschen häufig Snacks, Fertiggerichte und Lieferservice-Kost, Nahrungsmittel, die in der Regel wesentlich fetter und kohlehydratreicher sind als frisch zubereitete Mahlzeiten.
Gesundheitskompass: Vor einem guten halben Jahrhundert war Übergewicht hierzulande ein Problem der wohlhabenden Familien. Dickmacher waren teuer. Heute dagegen sind viele billig, und viel Gesundes ist teuer. Die Politik denkt darüber nach, an dem Punkt anzusetzen, etwa mit einer Zuckersteuer. Befürworten Sie den Plan?
P.M.H.: Grundsächlich ist es eine gute Idee, ungesunde Lebensmittel zu besteuern und mit dem Geld Gesundes zu subventionieren. Die Frage ist, ob besonders betroffene Bevölkerungsgruppen darauf eingehen können oder wollen. Sie würden, nach meiner Einschätzung, wohl eher empört reagieren, jetzt wird mir auch noch meine Ernährung unmöglich gemacht.
Gesundheitskompass: Abgesehen von Zeitmangel und Kosten, warum essen so viele Menschen lieber Fertig-Lasagne mit Zuckerzusatz und Eiscreme als selbstgekochte Zucchini-Pasta und eine Schale Beerenquark?
P.M.H.: Viele Erwachsene und Kinder sind an Fettes und Süßes gewöhnt, es prägt ihre Esskultur. Dazu kommt, dass wir genetisch darauf gepolt sind. Das ist einer der Gründe, warum wir nicht per Entscheidung dauerhaft abnehmen können. Übergewicht hat Ursachen in Gehirnregionen, die sich unserem Willen weitgehend entziehen.
Gesundheitskompass: Würden Sie das bitte kurz erläutern?
P.M.H.: Unsere frühen Vorfahren stammen aus Regionen in Afrika, wo Mangel herrschte. Viel und energiereich zu essen und Fettspeicher anzulegen, war eine Lebensversicherung, ein Segen. Heute, in Zeiten des Überflusses und der sitzenden Tätigkeiten, ist die Veranlagung eher ein Fluch.
Gesundheitskompass: Lässt sich der Fluch mit Diäten abwehren?
P.M.H.: Diäten, das belegen Studien und das erlebe ich bei all meinen jungen und älteren Patienten, bringen so gut wie nie langfristige Erfolge. Es hilft in den allermeisten Fällen nichts, wenn Eltern Druck ausüben in der Art, du musst dich nur beherrschen und anstrengen. Das Kind wird scheitern, sich schlecht fühlen und womöglich nach der Diät noch mehr essen.
Gesundheitskompass: Wirkt ein striktes Süßigkeitsverbot?
P.M.H.: Wie wollen Sie das durchsetzen in unserer Kultur? Als ich ein Kind war, hatte ich Spielkameraden, die durften keine Cola trinken. Dadurch wurde sie erst Recht spannend. Sie haben sie heimlich gekauft und am Ende mehr getrunken als wir anderen. Besser als Verbote auszusprechen ist es, den Kindern einen bewussten und maßvollen Umgang mit Süßem beizubringen und ihn vorzuleben.
Gesundheitskompass: Wie können Eltern ihrem übergewichtigen Kind noch helfen?
P.M.H.: Bei der Bewegung anzusetzen, ist ein guter erster Schritt. Man kann zum Beispiel, gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem Kinderarzt, eine geeignete Sportart finden oder körperliche Aktivitäten in den Alltag einbauen. Und ganz wichtig ist, eine Esskultur in der Familie zu etablieren, in der Mahlzeiten eine gemeinsame, positive Erfahrung sind und in der Fruchtsäfte und zuckerhaltige Softdrinks keine Durstlöscher sind. Satt macht Süßes übrigens auch nicht. Man hat kurz nach der Mahlzeit oder dem Trinken wieder Hunger. Das führt in vielen Fällen zum Snacking-Verhalten.
Gesundheitskompass: Snacking, also viele kleine Mahlzeiten einzunehmen, gilt einigen als Wunderwaffe gegen Übergewicht.
P.M.H.: Es gibt keine Wunderwaffe, und gegen ein sättigendes Vollkornbrot als gelegentlichen Snack ist nichts einzuwenden. Viele Eltern meinen aber, Kindern mit süßem Obst, Riegeln, Keksen oder Quetschies einen Gefallen zu tun. Doch das stimmt nicht. Selbst in Bioqualität sind süße Snacks böse.
Gesundheitskompass: Viele Kinder bekommen Süßes als Belohnung oder Trost.
P.M.H.: Davon rate ich ab, denn es kann zu Frustessen führen, zu Denk- und Verhaltensmustern, die Übergewicht fördern und das Abnehmen erschweren. Und noch ein Problem kann durch Snacking entstehen, das sogenannte Grasing.
Gesundheitskompass: Auf deutsch das Grasen, wie Weidetiere?
P.M.H.: Ja, das ist ein Fachbegriff für das Verhalten, den ganzen Tag über zu essen. Hier ein Keks, da ein Stück Käse, dort ein paar Chips. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist das verbreitet.
Gesundheitskompass: Eine Esskultur ohne ungesunde Snacks, in der frisch zubereitete Mahlzeiten einen hohen Stellenwert haben, erfordert auch Können und Wissen. Beides geht immer mehr verloren. Kitas und Schulen wirken dem mit ihrer Kost, mit Aufklärung, Kochkursen und anderen Angeboten und Aktionen entgegen. Sind die Maßnahmen als Prävention geeignet?
P.M.H.: Das sind sehr gute Ansätze, die unbedingt weiter ausgebaut werden sollten. Doch wenn man sich die Zahlen ansieht, reichen sie bei Weitem nicht. Es gibt in Deutschland allein mehr als 200 000 junge Leute zwischen 13 und 21 Jahren, die extrem adipös sind, deren BMI-Perzentil-Wert also über 99,5 liegt.
Gesundheitskompass: Kann sich kindliches Übergewicht nicht von allein verwachsen?
P.M.H.: Nein, ab BMI-Perzentilen von 90 verschwindet es nicht einfach nach einem Wachstumsschub. Das sind die Kinder, die ich in unserem Zentrum sehe.
Gesundheitskompass: Sie behandeln Jungs und Mädchen ab 13 bis 16 Jahren, bei denen die sekundären Geschlechtsmerkmale ausgeprägt sind. Wie gehen Sie vor?
P.M.H.: Als erstes füllen sie gemeinsam mit den Eltern einen umfangreichen Fragebogen zur Krankengeschichte, zu Bewegungs- und Essgewohnheiten und zur Lebenszufriedenheit aus. Daraus ergibt sich ein sogenannter Score. Wir erkennen an ihm, ob eine Ernährungsberatung, Bewegungsschulungen und andere sanfte Methoden ausreichen oder ob andere individuelle Therapien notwendig sind.
Gesundheitskompass: Also Operationen?
P.M.H.: In der Regel ja, bei extremer Adipositas. Bei Volumenessern, die kein Sättigungsgefühl spüren, kommt eine Magenverkleinerung in Frage. Bei Menschen, die zu viel Zucker zu sich nehmen, umgehen wir einen Teil des Dünndarms. Beide Eingriffe führen wir minimalinvasiv durch.
Gesundheitskompass: Dennoch sind es drastische Eingriffe.
P.M.H.: Adipositas ist eine drastische Erkrankung! Fett ist hormonaktiv, es begünstigt Krebserkrankungen. Allein in Deutschland sterben mehr als 30 000 Menschen pro Jahr an Krebs, der übergewichtsbedingt ist. Häufig entwickelt Betroffene schon im Jugendalter Bluthochdruck und Diabetes mellitus Typ II. Nicht nur die Lebenserwartung, auch die Lebensqualität sinkt. Eine große Zahl der erkrankten jungen Leute hat Probleme in der Schule und wird später kein normales Arbeits- und Familienleben aufbauen. Das ist eine große individuelle Belastung, aber auch eine gesellschaftliche Herausforderung. Einige Fachleute sprechen von einer Adipositas Epidemie.
Gesundheitskompass: Adipositas führt nicht nur zu Folgeerkrankungen, sondern ist als eigenständige Krankheit definiert. Das bedeutet, dass die Kassen Therapien, darunter Operationen, bezahlen.
P.M.H.: Ja, wenn bestimmte vom BMI abhängige und diagnostische Kriterien erfüllt sind. Die chirurgischen Eingriffe erfordern jedoch eine lebenslange Umstellung der Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, dazu eine lebenslange, recht engmaschige ärztliche und manchmal therapeutische Begleitung. Für die Kosten dieser Nachsorge kommen die Kassen fast ausnahmslos nicht auf. Das müsste sich meiner Ansicht nach ändern.
Gesundheitskompass: Was halten Sie von den neuen gehypten Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy? Einige Ihrer Kollegen bezeichnet die medikamentöse Behandlung von Adipositas als Game-Changer.
P.M.H.: Die Mittel sind sicherlich sanfter als Operationen und bewähren sich bei Erwachsenen mit BMI-Werten zwischen 30 und 40. Liegen sie höher, ist der Gewichtsverlust nicht ausreichend. Nach Rücksprache mit den Eltern, habe ich Spritzen auch bereits bei Jugendlichen erfolgreich eingesetzt. Ich bin zuversichtlich, dass es in naher Zukunft Studien und Medikamente speziell für die Altersgruppe geben wird.
Gesundheitskompass: In den USA sind die Spritzen bei etwas pummeligen Millionären und mageren Models angesagt.
P.M.H.: Was die Mittel bei leicht übergewichtigen, normal- und untergewichtigen Menschen bewirken, ist nicht oder nicht ausreichend erforscht. Im übrigen erfordern auch die Spritzen eine lebenslange Umstellung der Ernährung und der Bewegungsgewohnheiten. Wenn Sie weiter essen wie bisher, wird sich nichts oder wenig ändern, und sobald Sie die Medikamente absetzen, nehmen Sie wieder zu.
Gesundheitskompass: Übergewicht bedeutet oft auch seelisches Leid. Hören Sie in der Beratung und in Sprechstunden von Mobbing, Body Shaming und psychischen Problemen, die daraus resultieren?
P.M.H.: Leider ja, davon berichten nahezu ausnahmslos alle Betroffenen, egal welchen Alters. Wer dick ist, wird verspottet und verachtet als jemand, der sich nicht zusammenreißen kann und der selbst Schuld ist an seinem Aussehen. Kinder und Jugendliche, die zur Schule gehen und in den sozialen Medien aktiv sind, sind natürlich häufiger entsprechenden Kommentare und Angriffen ausgeliefert als etwa Bewohnerinnen eines Altenheims.
Gesundheitskompass: Hilfe finden Betroffene bei Therapeutinnen und Psychologinnen, Expertinnen, die auch zu Ihrem Team gehören.
P.M.H.: Ja, und eine wichtige Rolle spielt unsere Selbsthilfegruppe. Aktuell haben wir zwar keine ausdrücklich für Jugendliche, aber sie sind natürlich willkommen. In den Gesprächsrunden sind Mobbing, Selbstwert und Emotionen Hauptthemen, wie auch Erfahrungen mit Operationen und anderen Therapien.
Gesundheitskompass: Fett sein ist fantastisch, so könnte man die aktuellen Body Positivity-Bewegung beschreiben. Zunehmend tragen Influencer und Stars ihr Übergewicht mit Stolz und verkünden, sie seien gesund und fit und ließen sich nicht länger für krank erklären.
P.M.H.: Den ersten Teil kann ich nur begrüßen. Niemand muss und sollte sich für sein Gewicht schämen und sich schlecht fühlen. Sicherlich kann man fit und beweglich, schön und eine Stil-Ikone sein, unabhängig vom Gewicht. Und es ist wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen, dass es vielfältige gesunde Körperformen gibt, und nicht nur die eine Modelnorm. Sich selbst zu akzeptieren und ein positives Selbstbild zu haben, kann helfen, den Teufelskreis zu durchbrechen, in dem viele stecken.
Gesundheitskompass: Können Sie bitte ein Beispiel nennen?
P.M.H.: Viele gehen nicht ins Schwimmbad oder zum Walken, weil sie sich hässlich fühlen und keine Lust haben, abgestarrt zu werden oder Kommentare zu hören. Statt in Bewegung zu kommen, bleiben sie frustriert daheim und essen noch mehr.
Gesundheitskompass: Ist es wirklich nicht möglich, übergewichtig und gesund zu sein?
P.M.H.: Es gibt Kinder und junge Menschen, die keine oder wenig Beschwerden haben und entwickeln. Genauso gibt es Raucher wie Johannes Heesters, die über 100 Jahre alt werden. Doch beide Fälle sind höchst unwahrscheinlich. Der Normalfall ist leider, dass man im Lauf des Lebens einen sehr hohen Preis bezahlt.
Gesundheitskompass: Professor Hoffmann, vielen Dank für das Gespräch!
Adressen & Informationen
Adipositas Zentrum Wiesbaden
Beratung und interdisziplinäre Behandlungen, basierend auf fünf Säulen: Medizin, Verhaltenstherapie, Ernährungsberatung, Bewegung und Selbsthilfe. Plus: Kontakt zur Selbsthilfegruppe.
Bundesministerium für Gesundheit
Analysen, Fakten und Informationen zur Prävention.
Bundesverband der Frauenärzte im Netz e.V.
Studienergebnisse zum Einfluss des Übergewichts der Mutter in der Schwangerschaft auf das Gewicht des Kindes.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Informationen für betroffene Familien, u.a. zu Ernährung, Bewegung, Medienkonsum, Schlaf und anderen Ursachen von Übergewicht. Telefon-Hotline: 0221 89 20 31; Mo bis Do 10.00 bis 22.00 Uhr, Fr bis So 10.00 bis 18.00 Uhr; Geführen entsprechend dem Telefontarif.
Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V.
Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter bietet Termine, Informationen, u.a. zu Kosten von Therapien, und Tools wie eine Suchmaschine für Behandlungseinrichtungen in Deutschland.
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V.
Informationsplattform für betroffene Eltern, u.a. gibt es die kostenlose pdf-Broschüre „Mein Kind ist zu dick“
Kinder und Jugendärzte im Netz
Informationen zur Definition von Übergewicht bei Kindern, zu Ursachen, Krankheitsbild, Therapien und zur Vorsorge u.v.m.
Robert Koch Institut (RKI)
„AdiMon“ nennt sich das bevölkerungsweite Monitoring adipositasrelevanter Einflussfaktoren im Kindes- und Jugendalter. Die Plattform gibt einen Überblick über die Auswertung und Maßnahmen. Plus: Download der kostenlosen pdf-Broschüre „Kindliche Adipositas Einflussfaktoren im Blick“