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Interview

Auszeit vom Alkohol

Klarheit und Gesundheit: Warum eine alkoholfreie Phase Wunder wirken kann

ca. 6 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Image by Priscilla Du Preez 🇨🇦
Dry Try lädt mit Dry January und Sober Spring (nüchterner Frühling) Menschen in aller Welt ein, eine Weile auf Alkohol zu verzichten. Wir stellen die britische Initiative vor und nennen gute Gründe mitzumachen – egal wann und wie lange. Was es dabei zu bedenken gibt, erklärt Jochen Mehlmann, stellvertretender Leiter des Suchthilfezentrums Wiesbaden.

Ohne Alkohol lüftet sich ein Schleier“

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Pro Jahr wenden sich etwa 150 Menschen wegen Alkohol an Ihre  Beratungsstelle. Wie vielen würden Sie empfehlen, wie beim „Dry  January“, einen Monat lang testweise auf Alkohol zu verzichten?
Jochen Mehlmann: Da  muss man immer den Einzelfall berücksichtigen, die Konsummuster,  Gewohnheiten und die individuelle Problematik. Ein spontaner  Selbstversuch ist jedenfalls nicht die Lösung, die ich bei einem  Verdacht auf eine bestehende Sucht vorschlagen würde.

Gesundheitskompass: Warum nicht?
J.M.: Bei  schwerer Abhängigkeit können zum Beipiel gefährliche Symptome  auftreten, wenn man von einem Tag auf dem anderen nicht trinkt, darunter  Kreislaufversagen und Halluzinationen.

Gesundheitskompass: Sie  stimmen also dem Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und  Drogenfragen Burkhard Blienert nicht zu. Er sagt: „Jeder Tag ohne  Alkohol ist ein guter Tag für die Gesundheit und beugt aktiv einer  Suchtentwicklung vor."

J. M.: Doch  ich stimme ihm zu, aber mit der genannten Einschränkung. Und ich würde  die Aussage ergänzen. Jeder Tag ist ein guter Tag, der nicht nur eine  aufschiebende Wirkung hat.

Gesundheitskompass: Das bedeutet, wer einen gewissen Zeitraum lang nicht trinkt, nur um danach umso mehr zu trinken, hat wenig gewonnen?
J.M.: Richtig. Es geht beim alkoholfreien Monat ja vor allem darum, die  Konsumgewohnheiten zu überdenken und zu ändern. Menschen, die schwer  süchtig sind, brauchen dafür ärztliche und therapeutische Unterstützung.  Es wäre geradezu leichtfertig, ihnen einen unbegleiteten Selbstversuch  vorzuschlagen.

Gesundheitskompass: Sie können ihn aber Menschen mit Gewohnheitskonsum ohne schwere Sucht empfehlen?
J.M.: Unbedingt, wenn es sich tatsächlich um einen relativ geringen,  unproblematischen Gewohnheitskonsum handelt! Wie gesagt, wchtig ist, an  konsumfreien Tagen zu reflektieren. Wann, warum, wieviel trinke ich?  Welchen Stellenwert nimmt es ein, welche Funktion hat mein Trinken?

Gesundheitskompass: Empfehlen Sie auch die „Dry January“-App „Try Dry“?
J.M.: Ja, denn sie hilft beim Reflektieren. Sie dokumentiert Fortschritte,  das Befinden, und sie belohnt mit Fleißpunkten. Außerdem bekommt man  Tipps und Erfahrungsberichte von Teilnehmern aus aller Welt. Man ist  Teil einer Gruppe. Auch das motiviert und hilft beim Durchhalten und  beim Einordnen und Überdenken des Trinkverhaltens.

Gesundheitskompass: Angenommen, das Verlangen wird nach wenigen Tagen so stark, dass man es  gerade noch unterdrücken kann. Ist man in dem Fall schon  suchtgefährdet?
J.M.: Sucht  zeigt sich insbesondere als ein unabweisbares Verlangen und in dem  Verlust von Kontrolle. Wenn das Nichttrinken problematisch ist, ist es  also ein guter Zeitpunkt, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Die  Gespräche sind kostenfrei, anonym und verpflichten zu nichts.  Sie  können helfen, eine entstehende Sucht zu erkennen und zu verhindern.

Gesundheitskompass: Viele schreckt die Vorstellung einer lebenslangen Abstinenz. Ist sie die einzige Möglichkeit, Sucht zu verhindern?
J.M.: Völlige Abstinenz ist sicherlich die beste Möglichkeit. Wer sein  gelegentliches, folgenfreies, also risikoarmes Konsumieren beibehalten  will, dem rate ich, gelegentlich innezuhalten und über die Funktion des  Trinkens zu reflektieren. Für solche präventiven Gespräche stehen wir  von der Suchtberatung ebenfalls gern zur Verfügung.

Gesundheitskompass: Es gibt keinen risikofreien Alkoholkonsum, lediglich risikoarmen. Gibt es eine erkennbare Schwelle, an der es gefährlich wird?
J.M.: Ja. Wer sich immer wieder vornimmt, nicht zu trinken, und immer wieder  scheitert, sollte das als Anzeichen eines vermutlichen Suchtproblems  ernst nehmen. Man plant zum Beispiel, mit der Frau schön essen zu gehen,  trinkt dann aber vorher so viel Wein, dass es unmöglich wird. Oder man  betrinkt sich das ganze Wochenende, obwohl man am Montag einen wichtigen  Termin hat …

Gesundheitskompass: … und erfindet Ausreden.
J.M.: Genau, die Montagsgrippe. Man belügt andere über den Konsum, trinkt  heimlich, leugnet, dass man getrunken hat oder sucht Anlässe zu trinken,  zum Beispiel den Verdauungsschnaps, ohne den angeblich der Magen  rebelliert, oder das Glas Wein zum Einschlafen.

Gesundheitskompass: Das regelmäßige Glas Wein zum Einschlafen ist riskant?
J.M.:  Ja, es kann riskant sein. Denn was bedeutet es denn, dass Sie ohne  nicht einschlafen können? Es bedeutet, dass Sie auf eine Substanz  angewiesen sind, um sich ein Grundbedürfnis, den Schlaf, erfüllen zu  können.

Gesundheitskompass: Und wer morgens einen Kaffee braucht, um wach zu werden, ist abhängig von Koffein?
J.M.: Wenn  es tatsächlich so wäre, ja. Abstinente Zeiten regen an, genau über  solche Themen nachzudenken und Gewohnheiten und Verhalten kritisch zu  hinterfragen. Sucht hat viel mit Selbstverleugnung und Selbstbetrug zu  tun. Es ist nicht einfach, sich selbst einzugestehen, abhängig zu sein.  Abstinenz kann helfen, dass es gelingt.

Gesundheitskompass: In vielen Fällen ist es das innere Eingeständnis, das Menschen an der  Schwelle zur Sucht davon abhält, zur Beratung zu gehen. Denn ein  Problem, das man nicht ausspricht, lässt sich einfacher vor sich selbst  verstecken.
J.M.: Richtig, und das Verstecken vor sich selbst ist wiederum ein Symptom  der Sucht. Das ist ein Teufelskreis. Man muss sich ein Herz nehmen, ihn  zu durchbrechen, sich zu trauen, auch beim ersten Verdacht eine  Beratungsstelle anzurufen. Man kann davon nur profitieren.

Gesundheitskompass: Angenommen,  nach einigen alkoholfreien Tagen treten körperliche Symptome auf, man  schwitzt, ist nervös, schläft unruhig, hat Kopfweh und keinen Appetit.  Ist das bedenklich?
J.M.: Alle, die einmal mehr getrunken haben, als sie vertragen, kennen den  Kater, also Beschwerden, wie sie auch bei einer Auszeit auftreten  können. Wer zuvor keinen regelmäßigen, hohen Konsum hatte, muss dadurch  keine längerfristigen körperlichen Schäden befürchten. Den anderen rate  ich, unbedingt Rücksprache mit ihrem Arzt zu halten.

Gesundheitskompass: Viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen von Dry January berichten, dass  sie sich schon nach wenigen Tagen körperlich vitaler und geistig  präsenter fühlen.
J.M.: Ja,  natürlich. Alkohol ist ein Giftstoff. Er belastet Organe und Kreislauf,  und er dämpft die Wahrnehmung. Letzteres erleben viele erst einmal als  angenehm und beruhigend. Aber mittelfristig verliert man an Präsenz und  den Kontakt zur Außenwelt. Ohne Alkohol lüftet sich ein Schleier.

Gesundheitskompass:  Angenommen, man schafft einen Monat ohne, und zwar ohne in der Folge  umso mehr zu trinken. Ist das der Beweis, dass die Trinkgewohnheiten  risikoarm sind?
J.M.: In der Regel ja, vor allem dann, wenn man Konsumgewohnheiten während  der Zeit auch überdacht hat. Doch wie immer kommt es auf den Einzelfall  an. Interessanterweise trinkt die Mehrzahl der Teilnehmerinnen nach dem  „Dry January“ langfristig weniger. Sie haben erlebt, dass es Vorteile  hat und Spaß macht, nüchtern und klar zu sein.

Gesundheitskompass: Und man spart Geld, verliert Pfunde und hat mehr Zeit für Hobbys oder  die Familie, weil man ohne Alkohol besser schläft und keinen Hangover  mehr auskurieren muss. Wie lange muss eine Abstinenzphase mindestens  sein für eine spürbare positive Wirkung, reicht schon eine Woche?
J.M.: Jeder Tag zählt, je länger, desto besser. Ein Monat ist sicherlich ein  gutes Ziel, das die meisten Menschen, die keine manifeste Sucht haben,  erreichen dürften. Weitere von der App unterstütze Programme sind ,Dry  Spring', also der abstinente Frühling, und ,Sober October', der  nüchterne Oktober. Beides kann ich allen, die risikoarm konsumieren, nur  empfehlen!

Gesundheitskompass: Sehr geehrter Herr Mehlmann, vielen Dank für das Gespräch!

Strategien gegen ein übermächtiges Verlangen 
+ Machen Sie sich bewusst, dass das Verlangen nur wenige Minuten andauern wird.
+ Erfinden Sie ein Ritual wie Tee kochen, mit dem Hund spielen, Atemübungen machen, Freunde und „Mitstreiter“ anrufen.
+ Kämpfen Sie nicht gegen das Verlangen an, sondern spüren Sie ihm nach  und nutzen Sie es zur Reflektion: Was genau fühle ich, warum will ich  ausgerechnet jetzt trinken … .
+ Falls Sie nachgeben, betrachten Sie es nicht als Scheitern, sondern  als Teil des Prozesses, abstinent zu sein – und versuchen Sie es  unbedingt weiter!

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Foto: privat

Jochen Mehlmann ist Diplomsoziologe und stellvertretender Leiter des Suchthilfezentrums Wiesbaden.

Foto: Try Dry

Image by Alex Nemo Hanse

„Try Dry“ ist eine Gesundheitsinitiative aus Großbritannien, die weltweit Menschen dazu aufruft, im Januar – oder auch darüber hinaus – auf Alkohol zu verzichten. Seit 2023 ist Deutschland mit Unterstützung des Blauen Kreuzes, der Techniker Krankenkasse und unter der Schirmherrschaft des Bundesdrogenbeauftragten Burkhard Blienert offiziell dabei. Die Aktion richtet sich an alle, die ihren Alkoholkonsum hinterfragen und ihrer Gesundheit etwas Gutes tun wollen – denn schon ein Glas am Tag kann langfristig riskant sein.

Mit der kostenlosen App Try Dry für Android oder Try Dry für iOS erhalten Teilnehmende Unterstützung in Form von Motivationstipps, Erfahrungsberichten, digitalen Belohnungen, Gesundheitsinfos sowie einem Überblick über gesparte Kalorien und Kosten. Viele berichten schon nach wenigen trockenen Tagen von tieferem Schlaf, besserer Haut, mehr Energie und gesteigerter Konzentration.

Adressen für Betroffene und Angehörige

+ Bei Fragen zu Konsumverhalten und Sucht – nicht nur Alkohol, sondern andere Substanzen und Verhalten betreffend – berät das Suchthilfezentrum Wiesbaden.
+ Anlaufstellen im Raum Wiesbaden, darunter den Ortsverein Wiesbaden des Dry-January-Mitorganisators Blaue Kreuz e.V., listet die Hessische Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS).
+ Ein Verzeichnis für Suchthilfestellen deutschlandweit bietet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS).
+ Ist Ihr Alkoholkonsum risikoarm? Der Gesundheitskompass-Präventionsberater zum  Konsumverhalten kann Ihnen in wenigen Minuten helfen, die Frage  abzuklären, entsprechen zu handeln und Beratungsstellen in der Region zu  finden.
+Selbsthilfegruppen für Menschen mit Alkoholproblemen und Angehörige finden Sie im Gesundheitskompass für Wiesbaden.

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