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Interview

Seelische Widerstandskraft

Warum Resilienz eine Kunst ist, aber kein Kunststück

ca. 8 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Image by Priscilla Du Preez 🇨🇦
Warum bleiben manche Menschen in Krisen oder nach traumatischen Erlebnissen stabil, während andere daran zerbrechen? Fachleute nennen diese seelische Widerstandskraft Resilienz – sie ist individuell verschieden ausgeprägt. Dr. Isabella Helmreich erforscht, welche Faktoren Resilienz stärken oder schwächen können. Wir sprachen mit ihr über genetische Einflüsse, die Bedeutung einer positiven Lebenseinstellung und darüber, wie man Resilienz trainieren kann.

"Erschaffe Situationen, in denen du Stress nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung betrachtest"

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Resilienz ist allgemein definiert als Widerstandskraft der Seele. Stimmen Sie zu?
Dr. Isabella Helmreich: Ja,  aber das ist mir zu verkürzt. Denn es fehlt der dynamische Aspekt.  Resilienz ist die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung  der psychischen Gesundheit nach widrigen Lebensereignissen. Das heißt,  es muss erst ein Stressor eintreten, damit sich entscheiden lässt, ob  eine Person resilient ist oder nicht.

Gesundheitskompass: Ist Resilienz eine Charaktereigenschaft wie zum Beispiel Schüchternheit?
Dr. Helmreich: Nein, es ist wissenschaftlich abgesichert, dass Resilienz eine  veränderbare und erlernbar Fertigkeit ist, eher vergleichbar mit, sagen  wir, der Fertigkeit zu schwimmen, statt unterzugehen. Und man kann sie  erlernen und lebenslang trainieren.

Gesundheitskompass: Wie, in Kürze, funktioniert Resilienztraining, das viele Psychotherapeuten und Coaches anbieten?
Dr. Helmreich: Es  werden Strategien und Haltungen vermittelt, die es ermöglichen, die  psychische Gesundheit zu stärken, zufriedener zu leben und mehr  Wohlbefinden zu entwickeln. An erster Stelle steht der Blick auf eigene  Ressourcen: Welche habe ich und wie kann ich sie für mich nutzen oder  wieder nutzen?

Gesundheitskompass: Welche Rollen spielen Strategien zur Stressbewältigung?
Dr. Helmreich: Die  Arbeit an einer guten Stressbewältigung ist beim Resilienztraining sehr  wichtig. Man lernt unter anderem, aktiv und selbstwirksam, also aus  eigener Kraft, belastende Situationen zu verändern, statt in der  Opferrolle zu verharren. Auch das Selbstwertgefühl wird gestärkt, und  man erarbeitet mit dem Therapeuten individuelle Methoden, eine  optimistische, positive Lebenseinstellung zu bekommen. Und nicht zu  vergessen ist die Arbeit an einer guten Selbstfürsorge und Achtsamkeit  für sich.

Gesundheitskompass: Gibt es dazu generell wirksame und einfache Übungen, die man ohne professionelle Anleitung ausprobieren kann?
Dr. Helmreich: Ja,  ich empfehle zum Beispiel die Kichererbsenübung. Packen Sie morgens  eine Handvoll Kichererbsen in die rechte Hosen- oder Jackentasche. Bei  jedem Ereignis, das Sie angenehm empfinden, einem Duft, dem Lächeln  eines Fremden, einem Musikstück, einem Sonnenstrahl auf der Haut, einem  beruflichen Erfolgserlebnis, lassen Sie eine Erbse in die linke Tasche  wandern. Viele wundern sich, wieviele schöne Momente sie erleben. Und  viele erfahren durch die Übung erst, was Ihnen alles Freude bereitet.  Probieren Sie es aus!

Gesundheitskompass: Es  wird also trainiert, in Krisen aktiv und positiv zu sein. Kann es nicht  auch hin und wieder helfen, passiv zu bleiben und zu erdulden?

Dr. Helmreich: Ja,  manchmal ist auch das die richtige Strategie. Idealerweise sollte man  beides beherrschen und unterscheiden können: Was kann ich aktiv  verändern und worauf habe ich keinen Einfluss? In diesem Fall, wie etwa  beim Tod eines geliebten Menschen, kann man die Situation nicht ändern.  Dann ist es eher hilfreich, an den eigenen Einstellungen zu arbeiten.  Und sich auch die Zeit zu geben zu trauern. Es ist sehr wichtig, dunkle,  unangenehme Gefühle zuzulassen und dadurch sozusagen die Seele zu  reinigen. Resilienz bedeutet ja nicht die Abwesenheit oder das  Unterdrücken von Unglück und Leid.

Gesundheitskompass: Aber es stimmt doch, dass resiliente Menschen glücklicher sind?
Dr. Helmreich: Sie haben zumindest mehr Möglichkeiten, dafür zu sorgen, auch in  schwierigen Situationen Glück zu empfinden und vor allem auch beides  nebeneinander zuzulassen.

Gesundheitskompass: Ist es bei der Resilienz wie beim Sport, und es gibt Menschen mit mehr und weniger Talent?
Dr. Helmreich: Ja, Resilienz ist zum Teil auch in den Genen verankert, man könnte also  von einer gewissen Begabung sprechen. Aber in wieweit sie sich  ausprägt, hängt auch entscheidend von äußeren Faktoren ab.

Gesundheitskompass: Von welchen?
Dr. Helmreich: Es  sind ganz unterschiedlich. Gene interagieren mit der Umwelt. Je  nachdem, was ich erlebe, welchen externen Einflüssen ich ausgesetzt bin,  zum Beispiel Kriegen, Luftverschmutzung, einem Überangebot oder Mangel  an Nahrung, hat das Einfluss auf meine Gene und kann dazu beitragen,  dass diese in uns zum Tragen kommen oder nicht. Viele dieser Faktoren  habe ich natürlich nur bedingt in der Hand.

Gesundheitskompass: Welche äußere Faktoren zeigen sich besonders wirksam, um die Resilienz zu stärken?
Dr. Helmreich: Eine gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, aber vor allem ein stabiles  soziales Netzwerk, das einen gut unterstützt, spielen wichtige Rollen.  Spannend ist, dass Familie und Freunde nicht unbedingt tatsächlich  anwesend sein müssen. Es genügt bereits das Wissen, dass jemand  zuverlässig für einen da ist, damit man mit Krisen oder Traumata besser  umgehen kann.

Gesundheitskompass: Können Eltern die Resilienzbegabung ihrer Kinder erkennen?
Dr. Helmreich: Jedes Kind ist anders. Forscher sprechen in diesem Kontext von  Löwenzahn- und Orchideenkindern. Erstere sind robust und reagieren  vergleichsweise entspannt, wenn sie unter Stress oder in  Krisensituationen geraten. Letztere reagieren feinnerviger, aber sie  entwickeln dennoch Resilienz, wenn man sie entsprechend mehr fördert.

Gesundheitskompass: Wie können Eltern die Resilienz der Kinder fördern?
Dr. Helmreich: Am besten mit einer sogenannten Stressimpfung, wie wir es nennen. Eine  kleine Dosis stärkt und wappnet für eine große Dosis. Schon sehr kleine  Kinder sollten hin und wieder scheitern, enttäuscht sein oder Konflikte  allein lösen. Helikoptereltern, die alle Hürden aus dem Weg räumen und  den Kindern negative Erfahrungen weitgehend ersparen, tun ihnen damit  eher keinen Gefallen.

Gesundheitskompass: Nicht einzugreifen und nicht zu helfen, fällt schwer, wenn man jemanden liebt und beschützen will.
Dr. Helmreich: Sicher.  Aber Eltern sollen die Kinder ja nicht allein lassen und kühl  zuschauen, wie sie sich aus misslichen Situationen heraus kämpfen,  sondern ihnen liebevoll beistehen. Also wenn sie hinfallen, keine Panik  verbreiten, wenn etwas misslingt, zum Weitermachen ermutigen und das  Scheitern relativieren. Die meisten Eltern machen das intuitiv richtig.  Was schätzen Sie, wieviele erwachsene Menschen in westlichen Ländern  resilient sind?

Gesundheitskompass: Mehr als die Hälfte?
Dr. Helmreich: Studien  aus den USA belegen, dass zwischen 35 und 65 Prozent der Menschen nach  wirklich traumatischen Ereignissen resilient sind, also keine seelische  Erkrankungen davon tragen.

Gesundheitskompass: Waren frühere Generationen resilienter?
Dr. Helmreich: Wer  Hunger und Kriege erlebt hat, der hat sozusagen eine hoch dosierte  Stressimpfung erhalten. Das kann zu größerer Resilienz führen,  allerdings auch zum Gegenteil. Viele Menschen, aus Krisengebieten,  denken Sie an Flüchtlinge, sind traumatisiert und leiden unter  seelischen Beschwerden. Ein Leben in Frieden und Wohlstand wirkt sich  für viele zweifellos positiver auf die Resilienz aus.

Gesundheitskompass: Es  gibt Zahlen, die darauf hindeuten, dass ältere Menschen, die  Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit kennen, in der Pandemie  seltener seelische Probleme entwickelt haben.
Dr. Helmreich: Ja,  unsere eigenen Forschungsergebnisse zeigen das auch. Eine Ursache ist,  dass junge Menschen und vor allem Kinder durch die Pandemie viel größere  Einbußen erfahren. Sie müssen zum Beispiel zuhause sitzen, auch wenn  die Eltern im Home-Office oder durch Existenzsorgen gestresst sind.  Vereinfacht gesagt, hat Corona für ältere Menschen weniger negative  Veränderungen und Stress mit sich gebracht. Übrigens besagt eine unserer  Studien, dass die allermeisten Menschen, egal welcher Altersgruppe,  hierzulande die aktuelle Krise sehr gut bewältigen.

Gesundheitskompass: Können Sie Zahlen nennen?
Dr. Helmreich: Rund 80 Prozent der Probanden dieser Studie haben ihre seelische  Gesundheit gut aufrecht erhalten, die gehören der Gruppe der  ,Resilienten´an. Zudem haben wir noch zwei weitere Gruppen gefunden: Die  ,Vulnerablen´starteten mit einer mittleren Belastung in die Krise,  kamen dann zunächst sehr gut zurecht, um mit der Zeit jedoch immer  stärker belastet zu sein. Die ,Recovered` starteten mit einer ähnlichen  Belastung wie die ,Vulnerablen´, waren zunächst stärker gestresst, haben  sich dann im Lauf der Zeit aber sozusagen entspannt und kehrten auf das  Niveau der ,Resilienten´ zurück. Solche Forschungsergebnisse helfen  enorm dabei, menschliches Verhalten in der Pandemie besser zu verstehen  und gezielt Interventionen für vulnerable Menschen anzubieten.

Gesundheitskompass: Das heißt, es gibt individuelle Arten, Resilienz zu erreichen, und einige Menschen brauchen mehr, andere weniger Zeit.
Dr. Helmreich: Genau.  Jeder muss für seine Situation passende Strategien für sich finden. Das  können Humor, Kreativität und vor allem das sogenannte Positive  Appraisal sein. Das ist eine Haltung, die besagt: Erschaffe Situationen,  in denen du Stress nicht als Bedrohung, sondern als Herausforderung  betrachtest. Die Pandemie ist auch eine Chance, etwas zum Besseren zu  verändern.

Gesundheitskompass: Was ist  zum Beispiel positiv daran, dass die Theater so lange Zeit geschlossen waren?
Dr. Helmreich: Durch die Online-Vorführungen hatten Zuschauer etwa die Möglichkeit,  den Darstellern sehr nahe zu kommen, ihre Mimik genau zu studieren und  ihnen quasi über die Schulter zu schauen. Man hatte sozusagen ein  richtigen Logenplatz, den man ja normalerweise eher selten bekommt.  Dadurch konnten sich ganz neue Sichtweisen auf ein Stück, die Leistung  der Schauspieler und auf das eigene Leben ergeben. Und man konnte es  sich zuhause  gemütlich machen und hatte keinen Stress, einen Parkplatz  oder seinen Sitzplatz zu finden.

Gesundheitskompass:  Resilienztraining scheint überwiegend eine Kopfsache zu sein. Sind  gebildete und intelligente Menschen, die gelernt haben zu reflektieren,  resilienter?
Dr. Helmreich: Zusammenhänge  werden immer wieder festgestellt. Man weiß jedoch nicht, was Henne oder  Ei ist. Wer eine gute Bildung hat, kann sich in der Regel mehr leisten,  ernährt sich gesünder, kann bessere Gesundheitsleistungen in Anspruch  nehmen, lebt in einem besseren und gesünderen Umfeld. All diese  Strukturen helfen, die psychische Gesundheit auch in Krisen  aufrechtzuerhalten, also resilienter zu sein.

Gesundheitskompass: Sind Sie ein überdurchschnittlich resilienter Mensch?
Dr. Helmreich: Generell  würde ich mich schon als eher resilient einstufen. Aber wie jeder  Mensch, muss ich immer wieder daran arbeiten, das heißt, bewusst auf  mich achten, auf meinen Schlaf, meine Ernährung, meine Gewohnheiten. Und  immer einmal wieder ist es nötig, mich am Schlafittchen zu packen, um  aus einem Tal heraus zu kommen. Niemand ist durchgängig resilient und  längst nicht jeder, der in eine Krise gerät und sich unglücklich und  hilflos fühlt, muss direkt zum Therapeuten.

Gesundheitskompass: Sondern?
Dr. Helmreich: Wir  sollten nicht vergessen, dass ein gutes Maß an Stress und Tiefs zum  Alltag gehören. Wer keine diagnostizierte Erkrankung oder stark  beeinträchtigende Symptome hat, der kann sich erst einmal Zeit geben,  Ratgeber lesen, mit Freunden sprechen, vielleicht eine Selbsthilfegruppe  kontaktieren. Wer dann nach zwei, drei Wochen keine spürbare Besserung  bemerkt, sollte jedoch nicht zögern, professionelle Hilfe zu suchen. Es  ist keine Schande! Außerdem ermöglicht es unsere Gesellschaft jedem, sie  bezahlt zu bekommen.

Gesundheitskompass: Frau Dr. Helmreich, vielen Dank für das Gespräch!

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Foto: Oliver Rüther

Isabella Helmreich ist psychologische Psychotherapeutin und Expertin für Gesundheitsprävention mit Schwerpunkt Resilienzförderung. Mit Dr. Donya Gilan, Psychologin und Expertin für psychische Gesundheit, Bewältigung von Krisen und Anpassung an neue Lebenssituationen, leitet sie den Bereich „Resilienz & Gesellschaft“ des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung in Mainz.

Foto: Herder

Image by Alex Nemo Hanse

Möchten Sie mehr zum Thema Resilienz erfahren? Die Wissenschaftlerinnen haben, in Zusammenarbeit mit Dr. Omar Hahad, Stressforscher am Zentrum für Kardiologie der Universitätsmedizin Mainz, ein Buch veröffentlicht: Resilienz – Die Kunst der Widerstandskraft (Herder, 14 Euro). “Was die Wissenschaft dazu sagt", lautet der Untertitel, der den Inhalt zusammenfasst: Auf 208 Seiten sind die Geschichte und der aktuelle Stand der Forschung beschrieben. Dazu zeigen Fallbeispiele, wie es einzelnen und der Gesellschaft gelingt, Krisen zu meistern und Traumata zu überstehen.

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