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Interview

Impfungen

Warum wir den geltenden Impf­emp­feh­lun­gen Ver­trauen schen­ken können

ca. 7 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Mädchen auf den Gebieten
Angst vor Nebenwirkungen und Langzeitschäden, religiöser Glaube, Irrglaube an Verschwörungen – das Spektrum der Gründe, warum sich so viele Menschen gegen Impfungen entscheiden, ist breit. Von „Impfzurückhaltung“ spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO und listet sie als eine der zehn größten Bedrohungen für die Gesundheit. Professor Dr. med. habil. Michael Pietsch erklärt, warum Skepsis Ernst zu nehmen ist, ein genereller Unwille jedoch Leben kostet. Plus: Adressen und Informationen zu Impfungen im Allgemeinen und zu Corona

„Wir dürfen nicht vergessen, dass die Alternative zur Impfung Leid und Tod sind“

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Zum Start der Corona-Impfungen in Deutschland wäre eine allgemeine  große Erleichterung zu erwarten. Zahlen zeichnen aber ein anderes Bild:  Nach der Umfrage einer großen Krankenkasse wollen sich mehr als 22  Prozent nicht impfen lassen, mehr als 25 Prozent geben an, ratlos zu  sein. Wie erklären Sie das?
Prof. Dr. med. Michael Pietsch: Diese  übrigens auch unter medizinisch geschulten Menschen verbreitete Skepsis  gibt es leider, und zwar nicht nur gegen die Corona-Vakzine, sondern  generell gegen Impfstoffe. Die Gründe sind vielschichtig. Eine wichtige  Rolle spielt sicherlich die Flut an Informationen und eben auch an  Desinformationen, der wir ausgesetzt sind. Fakten und Fiktionen  vermengen sich und schüren Ängste, die wissenschaftlich nicht zu  begründen sind.

Gesundheitskompass: Im Zusammenhang mit Corona-Impfstoffen taucht in den Medien immer  wieder der Begriff Notfallzulassung auf. Das klingt nach kurzer  Testphase und weckt nicht gerade Vertrauen.
Prof. Pietsch: Eine  Notfallzulassung gibt es bei uns nicht. Alle Impfstoffe werden von der  europäischen Behörde EMA geprüft und dann jeweils regulär zugelassen.  Die Beschleunigung bei den Corona-Impfstoffen war möglich, weil schon  während der Studienphase Daten kontinuierlich an die Zulassungsbehörden  übermittelt wurden und nicht erst, wie üblich, nach Abschluß in  gesammelter Form.

Gesundheitskompass: Erfahrungen  mit Langzeitwirkungen konnte man in der kurzen Entwicklungsphase der  neuartigen mRNA-Vakzine aber nicht sammeln. Unsere Generation ist mit  den Folgen von Contergan aufgewachsen, das zwar kein Impfstoff war, aber  ebenfalls ein zugelassenes Medikament. Ist die Befürchtung junger  Familien, dass ihre künftigen Kinder durch pharmazeutische Stoffe  geschädigt wegen könnten, wirklich nur Fiktion?
Prof. Pietsch: Sie können die Zulassungsverfahren vor weit mehr als einem halben  Jahrhundert nicht mit der modernen Wissenschaft und Technologie von  heute vergleichen. So eine Katastrophe ist eigentlich nicht mehr  möglich. Und ja, im Fall des Corona-Impfstoffs auf mRNA-Basis ist die  Sorge um geschädigtes Erbgut unbegründet. Der Impfstoff kann nämlich auf  unsere Erbinformationen gar nicht einwirken, da er keinen Kontakt zur  DNA im Zellkern hat. Die verabreichte mRNA ist lediglich in der Lage,  ein Protein zu bilden, das das Immunsystem des Geimpften aktiviert,  Schutzstoffe gegen das Corona-Virus zu bilden. Gene sind dabei nirgendwo  im Spiel.
Gesundheitskompass: Großbritannien, das als erstes europäisches Land Corona-Impfungen  durchgeführt hat, setzt sie inzwischen bei Allergikern wieder aus.  Welche Gefahr besteht?

Prof. Pietsch: Bei  allen Impfungen kann es zu Nebenwirkungen kommen wie Schmerzen an der  Impfstelle, Müdigkeit oder zu einer kurzfristig erhöhten Temperatur.  Sehr selten tritt eine allergische Reaktion ein und noch viel seltener  ein anaphylaktischer Schock. Beide Risiken haben in der Regel nichts mit  dem eigentlichen Impfstoff zu tun haben, sondern mit den Zusatzstoffen,  und beide Risiken bestehen, besonders für Allergiker. Doch dagegen kann  man Vorsorge treffen. Wesentlich größer ist das Risiko einer  Nichtimpfung, nämlich der eigene Tod und der Tod der Menschen, die man  anstecken kann.

Gesundheitskompass:  Sie sind seit 35 Jahren Mediziner und haben allein in der Reise- und  Tropenmedizinischen Beratungsstelle der Universitätsmedizin Mainz  zigtausende Patienten geimpft. Wie oft haben Sie schwerwiegende  Schockreaktionen in Ihrer Praxis erlebt?
Prof. Pietsch: In  dieser Zeit habe ich geschätzt etwa 50.000 Impfungen durchgeführt.  Persönlich habe ich dabei keinen anaphylaktischen Schock erlebt. In  unserem Impfzentrum ist das in 50 Jahren Bestehen erst zweimal der Fall  gewesen. Es waren beides Reaktionen auf Gelatine, einen Bestandteil  einzelner Impfstoffe.

Gesundheitskompass: Bestand Lebensgefahr?
Prof. Pietsch: Nein. Wenn ein anaphylaktischer Schock eintritt, gibt es Medikamente  zur Behandlung, die in jeder Arztpraxis oder Impfstelle sofort zur  Anwendung kommen. Deshalb gehen Patienten generell nach einer Impfung,  auch nach der Corona-Impfung, nicht direkt nach Hause, sondern bleiben  zur Nachbeobachtung eine gewisse Zeit in der Praxis oder Impfstelle.

Gesundheitskompass: Lassen sich Impfgegner mit Erfahrungswerten und mit wissenschaftlich fundierten Argumenten überzeugen?
Prof. Pietsch: Eigentlich nicht, leider. Wer Impfungen aus irrationalen Gründen  ablehnt, etwa Angehörige sektiererischer Gruppen oder  Verschwörungstheoretiker, ist damit nicht zu erreichen. Aber für  Maskengegner habe ich zwei Zahlen, die vielleicht ein Umdenken einleiten  können.

Gesundheitskompass: Welche Zahlen sind das?
Prof. Pietsch: Seit Einführung des Mund-Nasen-Schutzes im Frühjahr sind  Masernerkrankungen in Deutschland um über 80 Prozent zurückgegangen und  Windpockenerkrankungen um etwa 50 Prozent. Masken wirken nicht nur gegen  das Corona-Virus, sondern generell gegen respiratorische  Virusinfektionen.

Gesundheitskompass: Die  WHO spricht von Impfzurückhaltung, das Verhalten ist weltweit  verbreitet und eine der zehn größten Gesundheitsbedrohungen der  Menschheit. Spricht das nicht aus medizinischer Sicht für eine  Impfpflicht?
Prof. Pietsch: Rein  medizinisch betrachtet vielleicht schon. Aber zum Glück leben wir in  einem Land, in dem neben der Gesundheit auch die Freiheit ein hohes Gut  ist. Die Politik muss beiden Werten gerecht werden, und das verträgt  sich nicht mit Zwangsimpfungen für die gesamte Bevölkerung. Ich wage die  Prognose, dass es eine solche Maßnahme auch bei der Corona-Impfung   nicht geben wird.

Gesundheitskompass:  Aber vielleicht eine Maßnahme, die mit dem Masernschutzgesetz zu  vergleichen ist, das seit 2020 in Kraft ist. Für betreute Kinder und  Schulkinder gibt es seither eine Impfpflicht, und auch Mitarbeiterinnen  und Mitarbeiter, etwa in medizinischen Einrichtungen, müssen geimpft  sein.

Prof. Pietsch: Ja, eine Entscheidung gegen die Masernimpfung ist nicht in jedem Fall  möglich und kann Auswirkungen zum Beispiel auf die Berufswahl haben. Bei  einer fehlenden Corona-Impfung sind durchaus zukünftig Einschränkungen  beim Reisen denkbar, wie es ja auch bei der Gelbfieber-Impfung der Fall  ist. Ohne Impfnachweis darf man dann nicht in ein bestimmtes Land  einreisen.

Gesundheitskompass: Was sagen Sie Eltern, die ihre Kinder nicht gegen Masern, Mumps, Windpocken und Röteln impfen lassen wollen?
Prof. Pietsch: Ich nehme die Bedenken ernst. Nicht jede Skepsis ist  unberechtigt, und jeder hat das Recht, Risiken abzuwägen oder den  Zeitpunkt für die Impfung zu bestimmen. Natürlich muss immer überprüft  werden, ob es ein wichtiges Impfhindernis gibt. Die genannten Impfstoffe  enthalten zum Beispiel lebende Erreger. Bei Menschen mit einem  geschwächten oder unterdrückten Immunsystem dürfen sie nicht eingesetzt  werden, da sich in ganz seltenen Fällen das Impfvirus wieder zum  krankmachenden Virus zurückbilden kann. Darüber kläre ich die Patienten  natürlich auf.

Gesundheitskompass: Nicht wenige Eltern glauben, dass eine Masernimpfung die Entwicklungsstörung Autismus begünstigt.
Prof. Pietsch: Das ist ein typisches Beispiel für Fehlinformation. Der Irrglaube geht  auf eine nachweislich gefälschte Studie zurück und hält sich aller  Gegenbeweise zum Trotz hartnäckig.

Gesundheitskompass: Als wir Kinder waren, vor einem halben Jahrhundert, gab es weder  Impfungen gegen diese sogenannten Kinderkrankheiten, noch hatte man  Angst vor ihnen. Es war normal, sie früher oder später durchzumachen.  Sind die Erreger seit damals aggressiver geworden?
Prof. Pietsch: Nein,  die Erreger haben sich nicht verändert. Man lebte damals allerdings in  dem Bewusstsein, dass man eine Ansteckung nicht verhindern konnte, Angst  hätte also wenig geholfen. Die Menschen gingen pragmatisch mit den  Erkrankungen um, aber es sind natürlich sehr viel mehr Kinder gestorben  und geschädigt worden als heute. Leider gibt es immer noch schwere  Krankheitsverläufe und Todesfälle, obwohl diese durch Impfungen  vermieden werden könnten.

Gesundheitskompass: Am Beispiel der Pocken hat sich gezeigt, dass strenge Impfregeln eine Krankheit ausrotten können.
Prof. Pietsch: Ja,  auch bei der Poliomyelitis, der Kinderlähmung, sind wir auf einem guten  Weg. Durch massive Impfkampagnen hat man bereits zwei von drei  Polioviren eradizieren können. Auch bei der Diphtherie sind wir sehr  weit gekommen durch die Impfung, aber auch durch die besseren  Lebensverhältnisse und die bessere Ernährungssituation.

Gesundheitskompass: Die Vergangenheit zu verklären, ist also, was das Thema Impfen betrifft, falsch.
Prof. Pietsch: Ja. Ich besitze eine antiquarische Postkarte aus den 1930er Jahren aus  Breslau, mit der eine Familie aufgefordert wird, das Kind zur Impfung im  Gesundheitsamt vorzustellen. Darauf findet sich die Begründung, dass  jährlich in Breslau 100 Kinder an Diphtherie versterben. Wenn man das  mit dem Mainz von heute vergleicht, bedeutet es, dass jedes Jahr etwa 30  Kinder an Diphtherie versterben würden. Das sind unvorstellbare Zahlen,  zum Glück. Und sie verdeutlichen, wie weit wir in der  Infektionsprävention gekommen sind.

Gesundheitskompass: Was halten Sie von Grippeimpfungen zu Coronazeiten?
Prof. Pietsch: Ich befürworte sie, sie schützen nicht nur den Einzelnen, sondern  helfen, Ärzte und Krankenhäuser zu entlasten. Man braucht sich auch  keine Sorgen zu machen, dass der Impfstoff knapp wird. Deutschland hat  25 Millionen Dosen freigegeben, das wird ausreichen.

Gesundheitskompass: Beim  Corona-Impfstoff wird wohl mit Engpässen zu rechnen sein. Bei der  erforderlichen Zweifachdosis wären 160 Millionen Dosen notwendig. Im  Januar werden aber nur drei bis vier Millionen zur Verfügung stehen,  schätzt der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
Prof. Pietsch: Er  schätzt auch, dass es mindestens bis in den Herbst dauern wird, bis 60  bis 70 Prozent der Bevölkerung geschützt sind. Laut WHO ist das der  Wert, mit dem die Pandemie beherrscht werden kann. Aber ich hoffe, dass  die geltende Impfempfehlung sehr viel schneller die Sterblichkeit und  die Auslastung der Intensivstationen senken wird.

Gesundheitskompass: Gibt es eine der empfohlenen Impfungen, von der Sie abraten?
Prof. Pietsch: Nein. Ich kenne Menschen, die lassen sich gegen alles impfen, was  möglich ist, um beim Reisen die größte Freiheit zu haben. Das ist zwar  nicht gesundheitsschädlich, aber vielleicht ein wenig übertrieben.

Gesundheitskompass: Professor Pietsch, vielen Dank für das Gespräch.

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Foto:privat

Prof. Dr. med. habil. Michael Pietsch ist am 22. September 2022  verstorben. Wir führten das Interview im Januar des Vorjahres. Er war  Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin sowie Tropenmediziner und leitete  die Abteilung für Hygiene und Infektionsprävention und die  Krankenhaushygiene der Universitätsmedizin der Johannes  Gutenberg-Universität Mainz. Weiterhin war er Leiter der Reise- und  Tropenmedizinische Beratungsstelle der Universitätsmedizin Mainz,  Mitglied der AG Impfen des Sozialministeriums Rheinland-Pfalz,  Beratender Sanitätsoffizier der Sanitätsakademie der Bundeswehr und  Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Fachzeitschriften.

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Adressen & Informationen

Die  Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (STIKO) ist das  Expertengremium, das nach dem Infektionsschutzgesetz für Deutschland  geltende Impfempfehlungen erarbeitet. Anschauliche Faktenblätter zu den  empfohlenen Impfungen für Kinder und Erwachsene, auch zu Impfungen  während der Schwangerschaft bietet die Seite des RKI

Das  Paul-Ehrlich-Institut ist als Bundesinstitut für Impfstoffe und  biomedizinische Arzneimittel eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich  des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und bietet ausführliche Informationen.

Den RKI-Impfkalender, der eine Übersicht über empfohlene Impfungen und Zeitpunkte gibt, finden Sie auch hier als Download

Kosten  für die empfohlenen Schutzimpfungen übernehmen die Gesetzlichen  Krankenversicherungen, dazu sind sie hierzulande per Gesetz  verpflichtet. Übersichten bieten die Krankenkassen, z. B.:
Deutsche Familienversicherung
AOK  

Impfungen  von A bis Z werden z. B. auf dem Portal des Pharmakonzerns  GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG gut verständlich erklärt, unter impfen.de 

Das Gesundheitsamt Wiesbaden informiert über Impfungen im Allgemeinen

Deutschland sucht den Impfpass heißt eine Aktion der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu den empfohlenen Schutzimpfungen und ihrer Dokumentation.

Die  Weltgesundheitsorganisation (WHO) erarbeitet zur Zeit die Smart Yellow  Card, ein global einheitliches Impfzertifikat, das für Reisende ein  wichtiges Dokument werden dürfte. Informationen dazu, auf Englisch 

Die Bundesregierung informiert über den aktuellen Stand und Ablauf der Corona-Impfungen

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