top of page

Interview

Erste Hilfe

Warum regelmäßige Erste-Hilfe-Kurse lebenswichtig sind

ca. 5 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Mädchen auf den Gebieten
Wie funktioniert die Herz-Druck-Massage? Was tun bei häuslichen Unfällen? Wie reagiert man richtig beim Verdacht auf einen Herzinfarkt oder bei einer seelischen Krise? Das Netzwerk Wiesbaden lernt Erste Hilfe macht es sich seit 2012 zur Aufgabe, möglichst vielen Menschen im Stadtgebiet Wissen zu vermitteln, das Leben retten kann. Kurse, Vorträge und Aktionen zu körperlichen und seelischen Notfallmaßnahmen richten sich an unterschiedliche Gruppen, auch an Schülern: Rund 15 000 haben bisher an Kursen teilgenommen. Wir stellen Gründer, Experten und Angebote vor und informieren über Maßnahmen und Verhalten.

„Bei einem Notfall kann man nichts falsch machen“

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Mein  Erste-Hilfe-Kurs liegt Jahrzehnte zurück. Ehrlich gesagt, hätte ich  Sorge, eine bewusstlose Person zum Beispiel in die stabile Seitenlage zu  drehen, und sie dabei zusätzlich zu gefährden.
Prof. Dr. med. Thomas Weber: Damit sind Sie nicht allein. Vielen Menschen geht es wie Ihnen, leider!  Das ist ein Grund, warum wir 2012 Wiesbaden lernt Erste Hilfe gegründet  haben. Das Netzwerk soll die Notfallkompetenz möglichst vieler  Bürgerinnen und Bürger stärken und so dazu beitragen, Leben zu retten.
Gesundheitskompass: Das Netzwerk bietet unter anderem Erste-Hilfe-Kurse, auch zum  Auffrischen an. Ist es denn so, dass die Teilnahme die Angst vertreibt,  zusätzlichen Schaden anzurichten?
Prof. Weber: Ja, dazu gibt es sogar Zahlen. Wir haben eine eigene Befragung  durchgeführt. Sie zeigt einen eindeutigen direkten Zusammenhang. Je  länger ihr Kurs zurück liegt, desto unsicherer fühlen sich Menschen.
Gesundheitskompass: Wie gefährlich ist es für eine bewusstlose Person mit Herzstillstand, wenn ein Ersthelfer einen Fehler macht?

Prof. Weber: Es ist so gut wie nicht möglich, einen gravierenden Fehler zu machen.  Mit das Schlimmste, das passieren kann, ist eine gebrochene Rippe durch  die Herz-Druck-Massage. Aber verglichen mit dem Tod ist das ein kleines  Übel. Das einzig wirklich Gefährliche ist, nichts zu tun oder gar  wegzulaufen.

Gesundheitskompass: Was, wenn man vor der Mund-zu-Mund-Beatmung zurückschreckt, etwa aus Angst vor Ansteckung?
Prof. Weber: Die Mund-zu-Mund-Beatmung wird für Laien nicht mehr  empfohlen. Die Herz-Druck-Massage ist bei einem  Herz-Kreislauf-Stillstand das Wichtigste und bis zum Eintreffen des  Rettungsdienstes ausreichend. Geschulte und professionelle Helfer und  Helferinnen wenden die Herz-Druck-Massage und Beatmung im festen  Rhythmus 30 zu 2 an. Wissen Sie noch, wie man prüft, ob ein  Herz-Kreislauf-Stillstand vorliegt?

Gesundheitskompass: Ich würde als erstes die 112 rufen und dann den Puls fühlen.
Prof. Weber: Die  Notfallnummer anzurufen, ist richtig. Den Puls zu fühlen, ist jedoch  keine zuverlässige Maßnahme. Empfohlen wird das Vorgehen nach der Regel  ,rufen, prüfen, drücken'. Also den bewusstlosen Menschen ansprechen oder  leicht kneifen, um zu sehen, ob er reagiert. Dann prüfen ob er atmet,  also ob ein Luftstrom aus Mund oder Nase spürbar ist oder sich der  Brustkorb hebt und senkt. Wenn dies nicht der Fall ist, sofort mit der  Herzmassage beginnen. Jede Minute die verstreicht, verkleinert die  Chance, erfolgreich wiederbelebt zu werden.

Gesundheitskompass:  Die Angebote von ,Wiesbaden lernt Erste Hilfe' richten sich nicht nur  an Erwachsene, sondern besonders auch an Kinder und Jugendliche. Wie  reagieren sie in Notfällen? 

Prof. Weber: In  den Kursen, die wir an Schulen durchführen, sind sie begeistert und  hoch motiviert. Anders als viele Erwachsene, gehen sie bei der  Reanimationspuppe kein bisschen zögerlich vor, sondern drücken beherzt  zu. Kinder haben außerdem in der Regel noch nicht die Tendenz, Notfälle  zu verdrängen. Ihre Offenheit und Unbefangenheit macht sie in den Kursen  zu sehr guten Ersthelfern.

Gesundheitskompass: Sie  schulen überwiegend Viert- bis Siebtklässler, bisher mehr als 14 000.  Haben Kinder in diesem Alter genug Kraft, um im Ernstfall einen  Erwachsenen zu reanimieren?
Prof. Weber: Ja,  die Kraft reicht aus. Aber ob und wie Kinder in einer echten  Notfallsituation reagieren, das können wir nicht wissen. Was wir jedoch  beobachten ist, dass sie nach dem Kurs die Eltern motivieren, ihr Wissen  aufzufrischen. Fragen wie: ,Was Mama, du weißt nicht mehr wie eine  stabile Seitenlage geht?’ hat uns schon einige erwachsene Kursteilnehmer  beschert.

Gesundheitskompass: Der Name des Netzwerks lässt an Erste Hilfe am Unfallort und vielleicht  noch an Herzstillstand denken. Für welche weiteren Notfälle schulen  Sie?
Prof. Weber: Notfälle von Herzinfarkt oder Schlaganfall sind ein wichtiger Bereich.  Es gibt auch Aktionen und Vorträge zu Seelischen Notfällen, Notfällen  auf Reisen, beim Sport, bei Allergien, bei Verbrennungen, bei Kindern,  bei Senioren, im Alltag. Wir decken im Grunde alle Bereiche ab,  ausgenommen Notfälle bei Tieren.

Gesundheitskompass: In Zeiten von Corona nehmen seelische Störungen zu. Weiten Sie ihre Angebote dazu aus?
Prof. Weber: Hilfe  bei seelischen Notfällen ist ein bisheriger und derzeit intensivierter  Schwerpunkt. Wir bieten im Rahmen des Programms Mental Health First Aid  Kurse an. MHFA wurde in Australien entwickelt. Es wird in Deutschland  vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim weiter  verbreitet und in unserem Netzwerk geschult.

Gesundheitskompass: Können Sie MHFA bitte kurz erläutern?
Prof. Weber: Seelische  Störungen werden vielfach verdrängt, Leute nehmen sie nicht wahr. Dabei  gibt es eine große Zahl seelischer Störungen und jährlich  beispielsweise über 9.000 Selbstmorde in Deutschland, über dreimal mehr  als Verkehrstote. Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen zunächst,  psychische Probleme und Krisen zu erkennen und einzuordnen. In weiteren  Schritten, erfahren sie, wie sie unterstützen, gezielt Betroffene zu  professioneller Hilfe ermutigen und weitere Ressourcen aktivieren  können.

Gesundheitskompass: MHFA-Kurse führen Sie auch an Schulen durch, richtig?
Prof. Weber: Bisher haben wir Lehrerinnen und Lehrer geschult. Seelische  Erkrankungen in der Altersgruppe unter 18 Jahren haben seit der Pandemie  teils erschreckende Ausmaße angenommen. Allein bei der Wiesbadener  Akademie für Psychotherapie WIAP ist in Zeiten der Corona-Pandemie kaum  ein Tag vergangen, ohne dass dort ein selbstmordgefährdeter Jugendlicher  um Hilfe bat.

Gesundheitskompass: Wie ist es möglich, an zwei Tagen zu lernen, richtig auf Depressionen, Suizidgefahr und Psychosen zu reagieren?
Prof. Weber: Wie bei medizinischer Erster Hilfe auch, wird niemand nach  einem Kurs zur Expertin oder zum Experten. Aber es ist möglich,  Basiswissen zu bekommen. Neben Verhaltens- und Gesprächsansätzen, ist es  gerade bei seelischen Notfällen auch wichtig, Notfalladressen und  Anlaufstellen zu kennen. Auch diese stellen wir in unseren Kursen vor.

Gesundheitskompass: Weitere Hilfen im Notfall, die ,Wiesbaden lernt Erste Hilfe' fördert,  sind öffentlich zugängliche Defibrillatoren, etwa in Schulen,  Sportvereinen und in der Nähe von belebten Plätzen. Sind die Geräte, die  das Herz durch einen Stromimpuls wieder geordnet schlagen lassen,  wirklich so einfach zu bedienen wie es in Arztserien aussieht?
Prof. Weber: Ja, diese Art von Frühdefibrillatoren ist es tatsächlich. Die  sprachgesteuerten Geräte coachen einen sozusagen durch die Diagnose und  die Anwendung. Einige Fachleute sagen, dass alle Laien sie bedienen  könnten. Besser noch sollten es geschulte Laien sein, also  Feuerwehrleute, Polizisten, Ersthelfer in Betrieben oder sonstige  Personen, die einen entsprechenden Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben.

Gesundheitskompass: Wo in Wiesbaden findet man zum Beispiel einen Defibrillator?
Prof. Weber: Etwa  vor der Hauptstelle der Wiesbadener Volksbank am Schillerplatz an der  Straße. Inzwischen ist der Defibrillator in deren Filialen auch im  Vorraum, zu dem man eine Scheckkarte braucht. Aber auch im Rathaus, in  der Staatskanzlei, im Gebäude der Wiesbadener Musik-und Kunstschule, in  der Sporthalle Klarenthal.

Gesundheitskompass: Bezahlt ,Wiesbaden lernt Erste Hilfe' die Defibrillatoren?
Prof. Weber: Schulen  und Vereine können einen Zuschuss bekommen, und Firmen und  Institutionen Geräte über uns günstig beziehen und unsere Schulungen  dazu kostenlos erhalten.

Gesundheitskompass: Wieviel kosten Schulungen und andere Kurse, die das Netzwerk anbietet?
Prof. Weber: Alle  unsere Aktivitäten sind gratis für Teilnehmende und Besuchende. Eine  Ausnahme ist das zweitägige Programm Mental Health First Aid, da kann  ein Eigenanteil fällig werden.

Gesundheitskompass: Und wo, außer in Schulen, finden die Angebote statt?
Prof. Weber: Wir sind bei Aktionstagen wie dem Patiententag präsent. Und Kurse und  Vorträge finden zum Beispiel auch bei unseren Mitgliedern wie dem DRK  Wiesbaden und den Johannitern statt. Und Vereine, Firmen, Institutionen  und Schulen können sich an uns wenden, wenn sie ein Angebot vor Ort  haben wollen.

Gesundheitskompass: Professor Weber, vielen Dank für das Gespräch!

Allergie_PLudge-Klimek_c-ZRA-Wiesbaden (1).jpg

Foto: privat

Professor  Dr. med. Thomas Weber, Vorsitzender und Mitbegründer von „Wiesbaden  lernt Erste Hilfe“, ist Internist, Arbeits- und Notfallmediziner.

Er war  lange Jahre Direktor des Instituts für Arbeitsmedizin, Prävention und  Gesundheitsförderung der Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden,  ist Vizepräsident des DRK, Kreisverband Wiesbaden, Mitglied zahlreicher  Fach- und Berufsverbände, Gremien und Arbeitskreise, Honorarprofessor  der Frankfurt University of Applied Sciences und hat eine Praxis in der  Wilhelm Fresenius Klinik Wiesbaden. Adresse und mehr Informationen.

Pollen2.png

Seit 2012 macht das Netzwerk Bürger fit für körperliche und seelische Notfälle. ​​​​​​​​​​​​​​​​​​

Kurse  zu Erster Hilfe am Unfallort sind nur ein Teil des vielfältigen  Angebots von Wiesbaden lernt Erste Hilfe. Expert*innen des Netzwerks  vermitteln darüber hinaus Basiswissen für medizinische  und seelische  Notfälle vieler Art: „Wir informieren, schulen, motivieren und vernetzen  und wollen dabei möglichst viele Menschen erreichen“, sagt Professor  Dr. Thomas Weber, Facharzt für Innere Medizin und Arbeitsmedizin. Er ist  mit Stefan Schröder, ehemaliger Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers,  Gründer des Netzwerks, dem auch  zahlreiche öffentlich zugängliche  Frühdefibrillatoren im Stadtgebiet zu verdanken sind: „Wir fördern das  Aufstellen und führen Schulungen durch.“
Die meisten Aktionen und Kurse sind für Teilnehmende kostenlos. Bei den  zweitägigen Kursen für seelische Notfälle „Mental Health First Aid“ wird  ein Eigenanteil erhoben. „Wiesbaden lernt Erste Hilfe“ finanziert sich  durch Sponsoren, darunter die Landeshauptstadt, die Wiesbadener  Volksbank, der Lions Club, Rotary Club, Boehringer Ingelheim, Abbott.
​​​​​​​

Kontakt: ausbildungszentrum(at)drk-wiesbaden.de
Spenden über Stiftung Gesundheitsstadt Wiesbaden oder über die Benefizaktion  Ihnen leuchtet ein Licht, Kennwort: Ihnen Leuchtet ein Licht, Wiesbaden lernt Erste Hilfe.

bottom of page