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Artikel

Heilsame Stammesgemeinschaft

ca. 8 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Image by MK Hamilton
Bäume umarmen, Blätter schmecken, den Boden küssen zählen zu den Übungen beim Waldbaden, auf japanisch: Shinrin Yoku. In Japan ist die Therapie gegen Stress und viele andere seelische und körperliche Beschwerden seit den 1980er Jahren etabliert. Ein Eintauchen in den Wald mit Sigrid Schwarz am Jagdschloss Platte – mit erstaunlichen Erlebnissen und Erkenntnissen.

„In der lebendigen Natur geschieht nichts, was nicht in der Verbindung mit dem Ganzen steht.“ Johann Wolfgang von Goethe

Der  Waldpfad und ich sind offenbar kein Liebespaar. „Gehen Sie so, als  würden Sie den Boden mit den Füßen küssen“, sagt Sigrid Schwarz. Sie  macht es vor: Mit langsamen, langen Schritten tänzelt sie über Kiesel,  Nadeln und trockene Zweige. Ich folge, indem ich in Zeitlupe vom Ballen  zur Ferse abrolle. Doch was ich für Küsse halte, fühlt sich wie Schubser  an. Der Weg knirscht und wehrt sich mit Stolpersteinen, die mich ins  Wanken bringen.

„Und,  wie fühlt es sich an?“, höre ich Sigrid Schwarz fragen und tauche auf:  Ohne es bemerkt zu haben, bin ich beim Versuch zu küssen versunken, tief  in Gedanken an Wege, die ich im Lauf des Lebens beschritten habe.  Bilder aus der Kindheit sind mit an die Oberfläche getrieben: Meine  Freunde und ich kriechen durchs Unterholz zu unserer geheimen Hütte. Wir  haben Zweige und dürre Stämme zu Wänden und einem Dach verflochten und  auf dem Boden einen Teppich aus Blättern und Moos verlegt. Vor dem  Eingang wächst ein Festmahl: ein Haselnussstrauch. Ich schmecke die Süße  der Früchte.Nach kaum einer Viertelstunde Waldbaden auf der Wiesbadener  Platte ist mein Erwachsenenalltag in die Ferne gerückt. Ich fühle mich  leicht und entspannt. Die Methode wurde in Japan Anfang der 1980er Jahre  entwickelt.

Dort  gibt es Shinrin Yoku, so die Übersetzung, inzwischen auf Rezept.  Forscher in aller Welt bestätigen die Wirkung gegen Stress, Ängste,  Bluthochdruck, Diabetes mellitus und zahlreiche weitere seelische und  körperliche Beschwerden. Waldbaden findet weltweit immer mehr  Befürworterinnen und Anhängerinnen, auch hierzulande.

In  Wiesbaden bietet Sigrid Schwarz Waldbaden an, Gründerin von Naturlover  in Wiesbaden: „In meinen Coaching-Seminaren und Kursen begleite ich  Menschen, damit sie in der Natur wieder zu ihrer eigenen Natur finden.  Die Verbundenheit, die wir dort erleben, wirkt positiv auf Körper, Seele  und Geist.“

Waldbaden  funktioniert denkbar einfach und schädliche Nebenwirkungen sind  ausgeschlossen – Stolpern und Insektenbisse ausgenommen: „Es geht darum,  den Naturraum Wald mit allen Sinnen achtsam wahrzunehmen“, erklärt  Sigrid Schwarz. „Dabei gibt es keine strikten Regeln. Man kann meinen  Anregungen und der eigenen Intuition folgen.“

Waldbaden  ist Tasten: Blätter, Rinden, Waldfrüchte, Holzstücke zu berühren und  sich berühren zu lassen. Es ist bewusstes Schauen: den Blick nach unten,  nach oben, nach innen zu richten, ihn auf Details ruhen zu lassen,  Muster zu entdecken, sei es im Lichtspiel der Blätter – oder im eigenen  Verhalten.

Waldbaden  ist auch, innezuhalten und die Augen zu schließen, um zu lauschen, zu  riechen, den Wind auf der Haut zu spüren. „Wir sind im Alltag sehr auf  unsere visuelle Wahrnehmung fixiert. Es ist überraschend, was wir  erfahren, wenn wir sie einmal bewusst zurücknehmen“, sagt Sigrid  Schwarz.

„Entschleunigung  ist das Zauberwort, Achtsamkeit die Devise, Einfachheit der Weg“. Das  ist die Kurzformel, mit der Sigrid Schwarz Waldbaden beschreibt. Etwa  vier Stunden dauert ein Kurs. Geeignet ist er für alle, die trittsicher  Gehen und sich auf Langsamkeit einlassen können. Lange Strecken werden  nicht zurückgelegt, oft nur ein, zwei Kilometer.

Trotzdem  können sich fremde Welten eröffnen. Die Waldtherapeutin zeigt mir, wie  ich sie finden kann: „Stellen Sie eine Frage. Dann schreiten Sie über  eine imaginäre Schwelle und vergessen die Frage. Gehen Sie achtsam  weiter. Was fällt ins Auge, welches Geräusch, welches Aroma erregen die  Aufmerksamkeit? Halten Sie die Sinne achtsam offen, und der Wald wird  antworten.“

„Was  darf ich in meinem Leben loslassen?“, sei eine gut geeignete Frage,  ebenso: „Was darf ich in mein Leben einladen?“ Ich entscheide mich für  erstere und folge dem Pfad. Ein Vogel zwitschert. In der Ferne brummt  ein Automotor. Äste knacken unter den Sohlen. Doch der Wald schweigt.

Der  Impuls, links ins Gelände abzubiegen, führt mich zu einer Gruppe von  Laubbäumen. Vier ruppige, ausgemergelte Riesen stecken die Köpfe  zusammen und tuscheln. Sie klingen unfreundlich, geradezu feindselig.  Einige Schritte abseits ragt ein Nadelbaum auf. Er neigt sich weg von  der Gruppe. Es ist offensichtlich: Er ist verstoßen und wird gemobbt.

Dem  Außenseiter gehört mein Mitgefühl. Ich gehe auf ihn zu, um ihn zu  streicheln. Und schrecke zurück: Die Rinde besteht aus esslöffelgroßen  Schuppen. Aus einer klaffenden Wunde tropft gelbe Flüssigkeit. Vor mir  steht ein himmelhohes verletztes Reptil, das mit großer  Wahrscheinlichkeit giftig ist. Der Wald hat geantwortet: Hinter mir  lassen kann ich Kontakte, die mich beunruhigen und mir schaden können.  Ich weiß sofort, wer gemeint ist.

Wie  eine Meditation, Tarotkarten oder I-Ging-Stäbchen, erlebe ich den Wald  als Orakel. Er bündelt die Konzentration und schickt Gedanken in eine  Richtung: Sie sind ein Laserskalpell, mit dem ich ein Problem sezieren  und ihm auf den Grund gehen kann. Das bringt mir vielleicht keine  Lösung, aber mehr Klarheit.


Sigrid  Schwarz hat eine andere Erklärung für die Arntworten des Waldes: „Er  lädt uns dazu ein, unsere Welt der festen Vorstellungen und Begriffe zu  verlassen und der Wirklichkeit so näher zu kommen. Buddhisten nennen das  nicht konzeptuelles Gewahrsein. Anstatt die Welt mit einem Filter von  Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen wahrzunehmen, verbinden wir  uns mit dem ungefilterten Puls des Lebens in diesem Augenblick“, und  fügt hinzu: „Man muss sich darauf einlassen. Wer generell ablehnend ist,  wird keine Antworten finden.“

Unbestritten  sind die positiven Effekte des Waldes auf Körper und Seele. Zahlreiche  Studien belegen, dass ein Aufenthalt in der Natur das Herz langsamer  schlagen lässt. Der Cortisol-Spiegel, Stressniveau und Blutdruck sinken.  Muskeln entspannen und das Immunsystem wird gestärkt. Mikroorganismen  und chemische Stoffe sind im Wald aktiv, darunter Phytonzide, die  Pflanzen produzieren, um Krankheiten und Schädlinge abzuwehren. Einige  von ihnen nehmen wir als Düfte wahr und verwenden sie für Aroma- und  Heilöle. Zur gesunde Luft tragen außerdem Anionen bei, negativ geladene  Teilchen, deren Anteil im Wald erhöht ist.

Auch  das Sozialverhalten verbessert sich im Grünen. Umweltpsychologen haben  beobachtet, dass Kinder im Wald kooperativer, autonomer und eher  altersübergreifend spielen. Und sogar die unheimliche Seite tut uns gut:  Zwielicht, ungewohnte Tiergeräusche, Insekten bringen uns in Kontakt  mit Ängsten und helfen dabei zu lernen, wie wir sie bewältigt werden  können, so eine Erklärung der Forscher.

„Von  den Bäumen können wir sehr viel lernen“, sagt Sigrid Schwarz. Bäume  sind über ein Pilzsystem unterirdisch miteinander verbunden und  versorgen ihre Nachkommen und schwächere Exemplare mit Zuckerlösung. Ist  ein Fressfeind im Anmarsch werden die Anderen über mehrere Kilometer  hinweg mit Hilfe von Terpenen, flüchtigen organischen Substanzen,  gewarnt: „Bäume sind fürsorgliche, soziale Wesen. Tatsächlich möchten  viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer sie umarmen“, sagt Sigrid Schwarz  und nennt eine weitere Möglichkeit, sich mit Bäumen zu verbinden: „Man  kann die Hände um Äste legen, ohne sie zu berühren. Dabei kann man ihre  Aura wahrnehmen, als leichten Druck oder Temperaturunterschied.“

Man  braucht keinen Wald für die positiven Effekte: Studien belegen, dass  Patienten, vor deren Fenster es grünt, mit weniger Schmerzmittel  auskommen und schneller genesen. „Mit einigen Klientinnen und Klienten  bleibe ich im Kurpark“, sagt Sigrid Schwarz. „Er ist mehr als groß  genug, um die Sinne achtsam zu schärfen und sich mit der Erde und der  Natur zu verbinden.“

Den  Rückweg zum Parkplatz widmet Sigrid Schwarz dem Geschmacksinn. Sie  zupft ein Buchenblatt ab: „Probieren Sie mal! Waldpflanzen sind reich an  Bitterstoffen. Sie sind gut für die Verdauung.“ Haselnussblätter seien  derzeit ihr Favorit oder die trockenen Samen von Brennnesseln mit ihrem  nussigen Aroma. „Natürlich soll man nur kosten, was man kennt. Auch in  unseren Breiten wachsen hochgiftige Pflanzen wie Eibe, Fingerhut oder  einige Pilzsorten.“

Auf  den letzten Metern verteile ich Abschiedsküsse mit den Füßen: Der  Waldpfad und ich sind auf dem besten Weg, Freunde zu werden.


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Foto: Naturlover, privat

Sigrid Schwarz ist diplomierte Landschaftsplanerin, Land Art Künstlerin, ganzheitliche Waldtherapeutin und Gründerin von Naturlover. Bei ihren Coachings, Therapien und Erlebniskursen für Firmenbelegschaften und private Teilnehmer*innen spielen die Heilkräfte der Natur Hauptrollen

Waldbaden: Adressen und weitere Informationen

Naturlover Wiesbaden
Die Wiesbadener Waldtherapeutin Sigrid Schwarz bietet zahlreiche  Erfahrungen in der Natur an, auch Coachings für Firmenmitarbeiterinnen  und Einzelpersonen. Waldbaden in der Gruppe dauert ca. drei Stunden, ab  15 Euro/ Pers.

Waldbaden in Hessen
Kornelia Stöhr ist Entspannungspädagogin und zertifizierte Kursleiterin  für Waldbaden – Achtsamkeit im Wald mit Zusatzqualifikation Waldbaden  für Kinder und Jugendliche. Sie leitet Kurse im Waldbaden u.a. in der  Region Vogelsberg.

HA Hessen Agentur GmbH
Die Touristikabteilung der Agentur bietet einen Überblick über  Veranstalter und Termine sowie Informationen zum Waldbaden in Hessen.

Wohllebens Waldakademie
Mit dem Autor und Förster Peter Wohlleben und seinem Team kann man u. a.  in der Eifel Waldbaden.

Lesetipps

Die wertvolle Medizin des Waldes: Wie die Natur Körper und Geist stärkt
Über 30 Jahre lang hat der Mediziner und Professor an der Universität Tokio die heilsame Kraft des Waldes erforscht und Shinrin Yoku (deutsch:  Waldbaden) entwickelt. Mit praktischen Übungen zeigt er, wie wir die  fünf Sinne anregen, Körper und Geist in Einklang bringen, die Beziehung  zur Natur erneuern und uns die Hilfskraft der Natur zunutze machen  können. Prof. Dr. Qing Li, Rowohlt,16,99 Euro

Das geheime Leben der Bäume
Der Bestsellerautor und Förster beschreibt, wie Bäume, Stauden, Gräser,  Pilze im Wald mit chemischen Stoffen kommunizieren, einander warnen,  helfen und heilen – und wie diese Stoffe auch positiv auf Menschen  wirken. Grundlagen sind eigene Erfahrungen und zahlreiche internationale  Studien. Ein faszinierendes Bild des Waldes als Gesellschaft denkender  und fühlender Wesen. Peter Wohlleben, Heyne TB, 12 Euro

Waldbaden – Das Praxisbuch
Neben Übungen zu Achtsamkeit und Entschleunigung, stehen die Wirkung von  Aromen und Rezepte für Duftöle und Menüs mit Wildkräutern und -beeren  im Mittelpunkt. Esther Winter, Christian Verlag, 19,99 Euro

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