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Zwerg Nase Zentrum

Märchenhafte Heimat für Schwerstbehinderte Kinder und junge Erwachsene

ca.5 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Image by Myriam Zilles
Schwerstbehinderte Kinder und junge Erwachsene leben im Zwerg Nase Zentrum in Wiesbaden, einer in Deutschland einzigartigen Einrichtung. Bei unserem Besuch schildert die Geschäftsführerin Sabine Schenk, wie es ihr und ihrem Team gelingt, ein Pflegeheim in ein Zuhause verwandeln. Und erklärt, warum dabei auch Einhörner, Lichterketten und Glitzernagellack wichtige Rollen spielen.

„Zwerg Nase gibt so viel Geld wie möglich unmittelbar für die Kinder aus, für ihre Lebensfreude und ihren Spaß“

Der  Vormittag ist kalt und grau, doch Kevins Zimmer ist in warmes  Abendlicht getaucht: Rote Vorhänge und der rote Bodenbelag lassen das  Weiß der Wände und Decke in Orangetönen schimmern, vergolden das Holz  des Gitterbettchens und färben das weiße Laken kirschblütenrosa. Es ist  mit einer Herde von Einhörnern in Regenbogenfarben gemustert. Zwischen  ihnen liegt Kevin auf dem Rücken.

Über  ihm baumeln Girlanden und ein Mobile mit Häschen aus Plüsch. Er hat den  Kopf zur Seite gedreht, zu einem Spielzeugspiegel, gerahmt von einer  Lichterkette aus roten, gelben, grünen Kugeln. Kevin scheint in den  Anblick seines Gesichts vertieft, in die Pausbäckchen, die Stupsnase,  den Mund, der sich entspannt zur Schnute wölbt, in den dichten braunen  Schopf.

Er  liegt abgewandt vom Holzregal neben dem Bett. Darin stehen die  Maschinen, kaum größer als Schuhkartons, die ihn beatmen, ihn ernähren,  sein Blut reinigen. Monitore blinken und piepen. Pumpen murmeln und  lassen mit langen Seufzern Leben durch Schläuche und Nadeln in Kevins  Körper fließen. Würde der Kreislauf unterbrochen, wäre es in kurzer Zeit  beendet. Kevin ist 18 Monate alt und einer der jüngsten Bewohner im  Zwerg Nase Zentrum Wiesbaden. Bis zu 84 Kinder und junge Erwachsene  können in dem im März 2021 eröffneten Neubau neben der Kinderklinik der  Helios Dr.-Horst-Schmidt-Klinik leben. Alle Bewohner sind mehrfach- und  schwerstbehindert und auf Hilfe und Pflege rund um die Uhr angewiesen.

Sie  sind in Wohngruppen eingeteilt: Die sogenannten Zwergenkinder sind an  Epilepsie erkrankt, unter anderem. Ihre Zimmer liegen im Erdgeschoss,  neben Schul- und Therapieräumen. Die erste Etage gehört den  „Rotkehlchen“, Kindern wie Kevin, die dauerbeatmet werden.

Im  zweiten Stock wohnen „Alltagshelden“, junge Erwachsene. Laut Gesetz,  müssen sie nach dem 18. Geburtstag in ein Altenpflegeheim umziehen. Das  Zwerg-Nase-Zentrum ist eine der wenigen Einrichtungen in Deutschland,  für die eine Ausnahmeregel gilt:

Sie  können bis zum Tod in der gewohnten Umgebung bleiben. In der obersten  dritten Etage haben Geschäftsführung und Mitarbeiter ihre Büros; dazu  gibt es 12 Plätze für „Zwergenkinder“, die zur Kurzzeitpflege kommen.

Dabei  orientiert sich das Zwerg Nase Zentrum an der Botschaft des Hauffschen  Märchens vom Zwerg Nase, dem Namenspatron: Eine Zauberin hat den schönen  Jüngling Jakob verhext. Er ist seither so häßlich und entstellt, dass  nicht einmal die Eltern ihn und seine wundervollen Fähigkeiten erkennen.  In der Einrichtung, die Professor Dr. Michael Albani gründete, sollte  kein Kind und Jugendlicher mit Schwerstbehinderungen verkannt und  unterschätzt werden – und keine Mitarbeiterin und kein Mitarbeiter.

2004  hat Professor Dr. Michael Albani das erste Zwerg Nase Haus eröffnet,  den kleineren Vorläufer des Zwerg Nase Zentrums. Er war bis 2009 Leiter  der HSK Klinik für Kinder und Jugendliche und hat in seinen Amtsjahren  noch einiges mehr auf die Beine gestellt: Er baute die Intensivstation  für Neugeborene aus, richtete eine Notfallambulanz ein, die mit  niedergelassenen Ärzten zusammenarbeitet, und eröffnete eine  Tagesklinik. Für sein Engagement erhielt er das Bundesverdienstkreuz am  Bande.

Sabine  Schenk ist von Anfang an als Managerin bei Zwerg Nase dabei. Sie ist  Kinderkrankenschwester und hat ein BWL-Studium mit Schwerpunkt  Gesundheitsmanagement absolviert. „Die Kombination stellte sich beim  Einstellungsgespräch offenbar als ganz brauchbar heraus“, sagt sie mit  einem vergnügten Lachen und erinnert sich: „Als Professor Albani sich  damals für mich entschieden hatte, beendete er die Beschreibung meiner  Aufgaben mit: ,Du machst das schon’“.

Einiges  mache sie anders eine "übliche Managerin“, wie sie sagt. „In meinem  Budget sind zum Beispiel Glitzernagellack, Modeschmuck, bunte  Bettwäsche, Vorhänge, Kuscheltiere und kindgerechte mp3-Player  eingeplant.“ Dinge, die nüchtern betrachtet, keinen medizinischen oder  praktischen Nutzen haben. Sie wirken jedoch geradezu zauberhaft: Sie  verwandeln eine Pflegeinstitution in ein Zuhause.

Die  wichtigeste Rolle dabei spielen die Mitarbeiter. Über ihr Team aus  Ärzten, Logopäden, Ergotherapeuten, Pflegekräften, Pädagogen,  Reinigungspersonal, Hausmeister, Lieferanten und Küchenkräften sagt  Sabine Schenk: „Wir und die Kinder sind eine Großfamilie. Jeder  wertschätzt jeden, und jeder hilft jedem.“

Und  sie fügt hinzu: „Das gibt es hier nicht, dass jemand an einem Kind  vorbei geht, ohne es zu begrüßen und ein paar Worte zu wechseln. Und  wenn während der Bewegungstherapie die Windel gewechselt werden muss,  wird nicht nach einer Pflegekraft gerufen. Das macht die Therapeutin  eben mal gerade mit.“

Es  gehe darum, Kinder nicht als Patienten, sondern als Personen zu sehen,  und möglichst viel Zeit mit ihnen zu verbringen. Zu plaudern, zu lachen,  zuzuhören, da zu sein, sind die Schwerpunkte der Arbeit. Neben der  beruflichen Qualifikation, seien darum Offenheit und Herzlichkeit  wichtige Einstellungskriterien: „Die Chemie muss stimmen, mit dem Team  und mit den Kindern.“

Pragmatisch  und unkompliziert sollten die Mitarbeiter ebenfalls sein: Beim Umzug im  März 2021 vom Altbau, der kaum 100 Meter entfernt auf dem Nachbarhügel  liegt, haben alle mit angepackt. Geschäftsführung, Pflegekräfte,  Therapeuten, Pädgogen, Haustechniker haben Möbel und Kisten geschleppt,  Regale eingeräumt, geputzt, um Kosten zu sparen.


„Zwerg  Nase gibt so viel Geld wie möglich unmittelbar für die Kinder aus, für  ihre Lebensfreude und ihren Spaß“, sagt Sabine Schenk. Zum Beispiel auch  für Shopping-Ausflüge in die Stadt und für Kurzreisen ins Planetarium:  „Mit entsprechendem Aufwand, können auch beatmete Kinder Abenteuer  erleben und die Welt erkunden.“

Finanziert  wird das Zwerg-Nase-Zentrum durch die Pflegesätze der Krankenkassen,  den Zwerg-Nase-Förderverein und durch Spenden. Entsprechende  Veranstaltungen und Aktionen sind zwei Jahre in Folge coronabedingt  ausgefallen. „Das Virus hat uns nicht nur finanziell ganz schön  zugesetzt“, sagt Sabine Schenk. „Auch das Tragen der Masken und die  Abstandsgebote seien schwierig gewesen: „Viele unserer Kinder  kommunizieren nicht mit Sprache, sondern mit Blicken und Berührungen. Da  war leider lange Zeit eine liebevolle Zuwendung nur erschwert möglich."

Inzwischen  sind Nähe und Besuche wieder alltäglich. Viele Familien kommen  regelmäßig. „Aber es gibt auch welche, die sich innerlich verabschiedet  haben“, sagt Sabine Schenk, und dass sich niemand schlecht fühlen müsse,  weil ihn die Rund-um-die Uhr-Betreuung überfordert. „Wir sind  oft die  beste Lösung für die Familie und das beste Zuhause für das Kind.“

Einige  junge Mitglieder der Zwerg-Nase-Großfamilie werden über das Jugendamt  vermittelt. Es sei leider nicht selten, dass schwerbehinderte Kinder  vernachlässigt und misshandelt würden: „Für Notfälle dieser Art haben  wir immer ein Zimmer frei. In der Regel weisen wir kein Kind ab,  ausgenommen Kinder, die schwer aggressives oder autoaggressives  Verhalten zeigen. Wir sind keine Psychiatrie, in der wir Kinder ruhig  stellen. Das können wir nicht leisten.“

Betroffene  Eltern sind eingeladen, sich zu informieren. Sie werden ausführlich  beraten, bevor sie die Entscheidung treffen, dass ihr Kind ins Zwerg  Nase Zentrum umzieht. Und auch danach sind Experten weiter für sie da,  helfen bei der Neuorientierung und auch beim Abschied nehmen.

Für  alle Kinder und junge Erwachsene ist das Haus eine letzte Station auf  ihrem Lebensweg. Kaum jemand vollendet das dritte Lebensjahrzehnt, viele  nicht einmal das erste.

„Dich zu kennen und zu lieben war eins.“

„Du bist nicht mehr da, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind.“

„Nichts stirbt, was in Erinnerung bleibt.“

Kinder,  die gestorben sind, bekommen einen Platz im Sternengarten, in der Nähe  des Spielplatzes. In Beeten liegen Schrifttafeln mit Worten des  Gedenkens. Sternskulpturen aus farbigem Plexiglas mit aufgemalten Namen  überragen Stauden und leuchten weiter, wenn alles Lebende verblüht ist.

Kevin  wohnt seit Monaten im Zwerg Nase Zentrum. Seine Eltern besuchen ihn  regelmäßig und bringen Geschenke. Jetzt steht Sabine Schenk an seinem  Bettchen: „Na, Schätzchen“, sagt sie und streichelt ihm das Ärmchen und  die Hand. Seine Beine zucken kaum merklich, doch es ist  unmissverständlich ein Ausdruck des Wohlgefühls.

Wörter  formen, wie viele Kinder in seinem Alter, wird er nie können. Er wird  nie allein sitzen, laufen, essen, zur Toilette gehen. Er wird als  Kleinkind sterben. „Auch unsere jungen Erwachsenen bleiben, was ihren  geistigen und seelischen Entwicklungsstand betrifft, Kleinkinder oder  junge Teenager.“

Viele  Bewohner des Zwerg Nase Zentrums machen größere Entwicklungsschritte  und leben wesentlich länger als die Statistiken es voraussagen. Doch  alle leben zu kurz: „Es ist eine wunderbare Aufgabe, ihnen die Zeit hier  so schön wie möglich zu machen“, sagt Sabine Schenk. „Wenn ein Kind  stirbt, weinen und trauern wir. Aber erst dann. Bis dahin lachen, lernen  und leben wir miteinander, mit so viel Freude wie möglich.“

Prof.-Dr.-Alex-Veldman

Foto: Zwerg Nase Zentrum

Geschäftsführerin  der Zwerg Nase Zentrum gGmbH ist Sabine Schenk. Sie ist groß und  schlank, und müsste man ihren Beruf auf Grund ihrer Erscheinung erraten,  läge man daneben: Sie sieht aus, wie die Chef-Designerin eines  Rock´Roll-Modelabels, strahlt dabei jedoch keine elitäre Abgehobenheit  aus, sondern Bodenständigkeit und Wärme. Und von den High Heels bis zur  rabenschwarzen Mähne verkörpert sie die Aufforderung, Schubladen zu  schließen und vorurteilsfrei und offen auf einander zuzugehen.

Foto: Zwerg Nase Zentrum

PD-Dr.-Doris-Fischer

Kevin's Zimmer im Zwerg-Nase Zentrum.

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