top of page

Interview

Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen

Schwere Kindheit

ca. 10 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Image by Myriam Zilles
Als Baby ein Wonneproppen, als Teenie ein Pummelchen: Rund 9,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen drei und 17 Jahren sind hierzulande übergewichtig.Wir sprachen mit Prof. Dr. Martin Hoffmann über Süßes mit bitteren Folgen, über Kalorienzählen ohne Ergebnis – und darüber, wie Eltern, Medizin und Politik helfen können, Gewichtsprobleme zu lösen.

„Bildung, Burger, Bildschirm, die drei Bs spielen entscheidende Rollen für das Gewicht von Kindern und jungen Leuten.“

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Ab welchem Punkt ist Übergewicht bei Kindern nicht länger niedlich, sondern gesundheitlich bedenklich?
Prof. Dr. med. Martin Hoffmann: Der  Punkt lässt sich in der sogenannten Perzentilenkurve ablesen. Sie zeigt  die alters- und geschlechtsspezifischen Durchschnittswerte für Größe,  Gewicht und Kopfumfang von Kindern in Deutschland an. Bei den  kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen werden die individuellen Werte  eingetragen. Liegt das Gewicht jenseits des oberen Normalwerts, ist das  Kind übergewichtig.

Gesundheitskompass: Bei  Erwachsenen gibt es Abstufungen des Übergewichts, abhängig vom BMI, dem  Body-Mass-Index. Liegt er über 25, ist man übergewichtig, ab 30,  spricht man von Adipositas Grad 1, über 34,9 von Adipositas Grad 2, über  39,9 von Adipositas Grad 3. Ist das bei Kindern vergleichbar?
P.M.H.: Ja,  bei Kindern ist es üblicherweise der BMI-Perzentil-Wert, der sich in  der Perzentilenkurve ablesen lässt. Übergewicht beginnt bei mehr als 90,  Adipositas bei mehr als 97, extreme Adipositas bei mehr als 99,5.

Gesundheitskompass: Studien  belegen, dass Babys, die mit mehr als 4000 Gramm zur Welt kommen, ein  erhöhtes Risiko haben. Beginnt das Problem bereits vor der Geburt?
P.M.H.: Übergewicht  ist nicht zwangsläufig genetisch vorbestimmt, es gibt jedoch Faktoren,  die es begünstigen. Dazu zählt starkes Übergewicht oder eine Adipositas  der Mutter. Auch andere Erkrankungen der Schwangeren können eine Rolle  spielen, darunter Gestationsdiabetes (Anm.: Schwangerschaftdiabetes) und  Präeklamsie und Eklamsie (Anm: schwangerschaftsbedingter  Blutdruckanstieg, der in schweren Fällen u.a. zu Krämpfen führen kann).

Gesundheitskompass: Kann sich auch Verhalten werdender Mütter auswirken?
P.M.H.: Ja. Es gibt Studien zum Bewegungsmangel. Vereinfacht gesagt gilt, je  gesünder die Schwangere lebt, desto kleiner ist das Übergewichtsrisiko  für das Kind. Auch Stillen wirkt sich positiv aus.

Gesundheitskompass: Über  Verhalten und Ernährung werden Eltern bei den kinderärztlichen Vor- und  Nachsorgeuntersuchungen, von Hebammen und Krankenkassen umfangreich  informiert. Warum erreicht die Aufklärung so viele Eltern nicht?
P.M.H.: Da  kommt einer der Hauptfaktoren für Übergewicht im Kindes- und  Jugendalter ins Spiel, die soziale Herkunft. Es ist hierzulande vor  allem ein Problem der bildungsfernen Kreise, die Beratungsangebote  weniger wahrnehmen. Unabhängig vom Alter, gehört die Mehrzahl unserer  Patientinnen und Patienten dieser Gruppe an, darunter viele mit  Migrationshintergrund.

Gesundheitskompass: Was sind weitere Hauptfaktoren für kindliches Übergewicht?

P.M.H.: Es gibt die sogenannten drei Bs, neben der Bildung, sind es Burger und Bildschirm.

Gesundheitskompass: Burger steht für fettes, zuckerreiches Fastfood?

P.M.H.: Ja.  Wenn ich durch die Stadt laufe, kommen mir jedes Mal junge Menschen  entgegen, überwiegend Männer, die riesige Becher voller Softdrinks in  der Hand halten. Ich denke dann immer, du meine Güte! Zuckerhaltige  Getränke, also Limonaden, Cola, Energy Drinks, aber auch Obstsäfte, und  zuckerhaltige Snacks wie Quetschies, Riegel, süßes Obst sind  Hauptursachen bei ernährungsbedingter Diabetes und Übergewicht.

Gesundheitskompass: Die  Politik plant, Werbung für besonders zuckerhaltige Nahrungsmittel und  Getränke, die sich an Kinder richtet, zu verbieten. Was halten Sie  davon?
P.M.H.: Das ist gut gemeint. Man kann natürlich Spots im Kinderfernsehen oder  zu bestimmten Uhrzeiten oder im Umfeld von Sportübertragungen verbieten.  Ich fürchte aber, das bringt wenig.

Gesundheitskompass: Warum?
P.M.H.: Für  viele Firmen ist Fernsehwerbung für diese Zielgruppe längst  uninteressant. Kinder und junge Leute sind überwiegend in sozialen  Medien unterwegs. Viel wichtiger ist ihnen, was Influencer sagen. Wie  wollen Sie einer junge Frau aus den USA oder aus Südkorea untersagen,  vor ihrer laufenden Handy-Kamera in einen Schokoriegel zu beißen und  ,mhh, lecker' zu sagen?

Gesundheitskompass: Mit dem Handy sind wir beim dritten B, der Bildschirmzeit. Wieviel ist für das Gewicht der Kinder unbedenklich?
P.M.H.: Das ist schwierig zu quantifizieren. Gemäß SK2-Leitlinie der  Expertenverbände, sollen Kinder unter drei Jahren gar nicht vor einem  Bildschirm sitzen, bis zu sechs Jahren maximal 30 Minuten pro Tag, bis  elf Jahre 60 Minuten und ab zwölf Jahren 120 Minuten. Je weniger  Bildschirmzeit, desto mehr Zeit bleibt für Bewegung.

Gesundheitskompass: Die  Empfehlungen für Bewegungszeiten sind drei Stunden über den Tag  verteilt für Kinder ab dem Vorschulalter und anderthalb Stunden für  Kinder ab sechs. Während des Lockdowns, als die Zeiten nur schwer zu  erreichen waren, ist die Anzahl der übergewichtigen Kinder und jungen  Leute weltweit deutlich angestiegen. Warum hält die Aufwärtstendenz an?
P.M.H.: Die Pandemie hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich  Lebensgewohnheiten verändert haben. So spielen Monitore im  Familienalltag eine größere Rolle. Kinder, die im Restaurant vor ihrem  Teller sitzen und gleichzeitig in einen Bildschirm vertieft sind, sind  ein normaler Anblick geworden.

Gesundheitskompass: Man könnte argumentieren, dass es doch besser ist, während des Essens  zu daddeln oder Filme zu gucken, denn dann bleibt davor und danach mehr  Zeit für Bewegung.
P.M.H.: Das trifft natürlich nicht den Kern des Problems. Zum einen nimmt man  im Schnitt 150 Kilokalorien mehr zu sich, wenn man beim Essen vor einem  Bildschirm sitzt. Sie können ausrechnen, wozu dieses in früher Kindheit  erlernte Verhalten in Jahren und Jahrzehnten führen kann.

Gesundheitskompass: Und zum anderen?
P.M.H.: Zum  anderen ist Essen in vielen Familien zur Nebensache geworden. Es ist  zunehmend seltener geworden, Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen und als  wertvolle, gemeinschaftliche Erfahrung zu erleben. In England gibt es  immer mehr Wohnungen ohne Küche. Und auch bei uns kaufen viele Menschen  häufig Snacks, Fertiggerichte und Lieferservice-Kost, Nahrungsmittel,  die in der Regel wesentlich fetter und kohlehydratreicher sind als  frisch zubereitete Mahlzeiten.

Gesundheitskompass: Vor  einem guten halben Jahrhundert war Übergewicht hierzulande ein Problem  der wohlhabenden Familien. Dickmacher waren teuer. Heute dagegen sind  viele billig, und viel Gesundes ist teuer. Die Politik denkt darüber  nach, an dem Punkt anzusetzen, etwa mit einer Zuckersteuer. Befürworten  Sie den Plan?
P.M.H.: Grundsächlich  ist es eine gute Idee, ungesunde Lebensmittel zu besteuern und mit dem  Geld Gesundes zu subventionieren. Die Frage ist, ob besonders betroffene  Bevölkerungsgruppen darauf eingehen können oder wollen. Sie würden,  nach meiner Einschätzung, wohl eher empört reagieren, jetzt wird mir  auch noch meine Ernährung unmöglich gemacht.

Gesundheitskompass: Abgesehen  von Zeitmangel und Kosten, warum essen so viele Menschen lieber  Fertig-Lasagne mit Zuckerzusatz und Eiscreme als selbstgekochte  Zucchini-Pasta und eine Schale Beerenquark?
P.M.H.: Viele Erwachsene und Kinder sind an Fettes und Süßes gewöhnt, es prägt  ihre Esskultur. Dazu kommt, dass wir genetisch darauf gepolt sind. Das  ist einer der Gründe, warum wir nicht per Entscheidung dauerhaft  abnehmen können. Übergewicht hat Ursachen in Gehirnregionen, die sich  unserem Willen weitgehend entziehen.

Gesundheitskompass: Würden Sie das bitte kurz erläutern?
P.M.H.: Unsere  frühen Vorfahren stammen aus Regionen in Afrika, wo Mangel herrschte.  Viel und energiereich zu essen und Fettspeicher anzulegen, war eine  Lebensversicherung, ein Segen. Heute, in Zeiten des Überflusses und der  sitzenden Tätigkeiten, ist die Veranlagung eher ein Fluch.

Gesundheitskompass: Lässt sich der Fluch mit Diäten abwehren?
P.M.H.: Diäten,  das belegen Studien und das erlebe ich bei all meinen jungen und  älteren Patienten, bringen so gut wie nie langfristige Erfolge. Es hilft  in den allermeisten Fällen nichts, wenn Eltern Druck ausüben in der  Art, du musst dich nur beherrschen und anstrengen. Das Kind wird  scheitern, sich schlecht fühlen und womöglich nach der Diät noch mehr  essen.

Gesundheitskompass: Wirkt ein striktes Süßigkeitsverbot?
P.M.H.: Wie wollen Sie das durchsetzen in unserer Kultur? Als ich ein Kind war,  hatte ich Spielkameraden, die durften keine Cola trinken. Dadurch wurde  sie erst Recht spannend. Sie haben sie heimlich gekauft und am Ende  mehr getrunken als wir anderen. Besser als Verbote auszusprechen ist es,  den Kindern einen bewussten und maßvollen Umgang mit Süßem beizubringen  und ihn vorzuleben.

Gesundheitskompass: Wie können Eltern ihrem übergewichtigen Kind noch helfen?
P.M.H.: Bei  der Bewegung anzusetzen, ist ein guter erster Schritt. Man kann zum  Beispiel, gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem Kinderarzt, eine  geeignete Sportart finden oder körperliche Aktivitäten in den Alltag  einbauen. Und ganz wichtig ist, eine Esskultur in der Familie zu  etablieren, in der Mahlzeiten eine gemeinsame, positive Erfahrung sind  und in der Fruchtsäfte und zuckerhaltige Softdrinks keine Durstlöscher  sind. Satt macht Süßes übrigens auch nicht. Man hat kurz nach der  Mahlzeit oder dem Trinken wieder Hunger. Das führt in vielen Fällen zum  Snacking-Verhalten.

Gesundheitskompass: Snacking, also viele kleine Mahlzeiten einzunehmen, gilt einigen als Wunderwaffe gegen Übergewicht.
P.M.H.: Es gibt keine Wunderwaffe, und gegen ein sättigendes Vollkornbrot als  gelegentlichen Snack ist nichts einzuwenden. Viele Eltern meinen aber,  Kindern mit süßem Obst, Riegeln, Keksen oder Quetschies einen Gefallen  zu tun. Doch das stimmt nicht. Selbst in Bioqualität sind süße Snacks  böse.

Gesundheitskompass: Viele Kinder bekommen Süßes als Belohnung oder Trost.
P.M.H.: Davon  rate ich ab, denn es kann zu Frustessen führen, zu Denk- und  Verhaltensmustern, die Übergewicht fördern und das Abnehmen erschweren.  Und noch ein Problem kann durch Snacking entstehen, das sogenannte  Grasing.

Gesundheitskompass: Auf deutsch das Grasen, wie Weidetiere?
P.M.H.:  Ja, das ist ein Fachbegriff für das Verhalten, den ganzen Tag über zu  essen. Hier ein Keks, da ein Stück Käse, dort ein paar Chips. Gerade bei  Kindern und Jugendlichen ist das verbreitet.

Gesundheitskompass:  Eine Esskultur ohne ungesunde Snacks, in der frisch zubereitete  Mahlzeiten einen hohen Stellenwert haben, erfordert auch Können und  Wissen. Beides geht immer mehr verloren. Kitas und Schulen wirken dem  mit ihrer Kost, mit Aufklärung, Kochkursen und anderen Angeboten und  Aktionen entgegen. Sind die Maßnahmen als Prävention geeignet?
P.M.H.: Das sind sehr gute Ansätze, die unbedingt weiter ausgebaut werden  sollten. Doch wenn man sich die Zahlen ansieht, reichen sie bei Weitem  nicht. Es gibt in Deutschland allein mehr als 200 000 junge Leute  zwischen 13 und 21 Jahren, die extrem adipös sind, deren  BMI-Perzentil-Wert also über 99,5 liegt.

Gesundheitskompass: Kann sich kindliches Übergewicht nicht von allein verwachsen? 
P.M.H.: Nein,  ab BMI-Perzentilen von 90 verschwindet es nicht einfach nach einem  Wachstumsschub. Das sind die Kinder, die ich in unserem Zentrum sehe.

Gesundheitskompass: Sie  behandeln Jungs und Mädchen ab 13 bis 16 Jahren, bei denen die  sekundären Geschlechtsmerkmale ausgeprägt sind. Wie gehen Sie vor?
P.M.H.: Als erstes füllen sie gemeinsam mit den Eltern einen umfangreichen  Fragebogen zur Krankengeschichte, zu Bewegungs- und Essgewohnheiten und  zur Lebenszufriedenheit aus. Daraus ergibt sich ein sogenannter Score.  Wir erkennen an ihm, ob eine Ernährungsberatung, Bewegungsschulungen und  andere sanfte Methoden ausreichen oder ob andere individuelle Therapien  notwendig sind.

Gesundheitskompass: Also Operationen? 
P.M.H.: In  der Regel ja, bei extremer Adipositas. Bei Volumenessern, die kein  Sättigungsgefühl spüren, kommt eine Magenverkleinerung in Frage. Bei  Menschen, die zu viel Zucker zu sich nehmen, umgehen wir einen Teil des  Dünndarms. Beide Eingriffe führen wir minimalinvasiv durch.

Gesundheitskompass: Dennoch sind es drastische Eingriffe.
P.M.H.: Adipositas  ist eine drastische Erkrankung! Fett ist hormonaktiv, es begünstigt  Krebserkrankungen. Allein in Deutschland sterben mehr als 30 000  Menschen pro Jahr an Krebs, der übergewichtsbedingt ist. Häufig  entwickelt Betroffene schon im Jugendalter Bluthochdruck und Diabetes  mellitus Typ II. Nicht nur die Lebenserwartung, auch die Lebensqualität  sinkt. Eine große Zahl der erkrankten jungen Leute hat Probleme in der  Schule und wird später kein normales Arbeits- und Familienleben  aufbauen. Das ist eine große individuelle Belastung, aber auch eine  gesellschaftliche Herausforderung. Einige Fachleute sprechen von einer  Adipositas Epidemie.

Gesundheitskompass: Adipositas  führt nicht nur zu Folgeerkrankungen, sondern ist als eigenständige  Krankheit definiert. Das bedeutet, dass die Kassen Therapien, darunter  Operationen, bezahlen.
P.M.H.: Ja, wenn bestimmte vom BMI abhängige und diagnostische Kriterien  erfüllt sind. Die chirurgischen Eingriffe erfordern jedoch eine  lebenslange Umstellung der Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, dazu  eine lebenslange, recht engmaschige ärztliche und manchmal  therapeutische Begleitung. Für die Kosten dieser Nachsorge kommen die  Kassen fast ausnahmslos nicht auf. Das müsste sich meiner Ansicht nach  ändern.

Gesundheitskompass: Was  halten Sie von den neuen gehypten Abnehmspritzen Ozempic und Wegovy?  Einige Ihrer Kollegen bezeichnet die medikamentöse Behandlung von  Adipositas als Game-Changer.
P.M.H.: Die  Mittel sind sicherlich sanfter als Operationen und bewähren sich bei  Erwachsenen mit BMI-Werten zwischen 30 und 40. Liegen sie höher, ist der  Gewichtsverlust nicht ausreichend. Nach Rücksprache mit den Eltern,  habe ich Spritzen auch bereits bei Jugendlichen erfolgreich eingesetzt.  Ich bin zuversichtlich, dass es in naher Zukunft Studien und Medikamente  speziell für die Altersgruppe geben wird.

Gesundheitskompass: In den USA sind die Spritzen bei etwas pummeligen Millionären und mageren Models angesagt.
P.M.H.: Was die Mittel bei leicht übergewichtigen, normal- und  untergewichtigen Menschen bewirken, ist nicht oder nicht ausreichend  erforscht. Im übrigen erfordern auch die Spritzen eine lebenslange  Umstellung der Ernährung und der Bewegungsgewohnheiten. Wenn Sie weiter  essen wie bisher, wird sich nichts oder wenig ändern, und sobald Sie die  Medikamente absetzen, nehmen Sie wieder zu.

Gesundheitskompass: Übergewicht bedeutet oft auch seelisches Leid. Hören Sie in der  Beratung und in Sprechstunden von Mobbing, Body Shaming und psychischen  Problemen, die daraus resultieren?
P.M.H.: Leider  ja, davon berichten nahezu ausnahmslos alle Betroffenen, egal welchen  Alters. Wer dick ist, wird verspottet und verachtet als jemand, der sich  nicht zusammenreißen kann und der selbst Schuld ist an seinem Aussehen.  Kinder und Jugendliche, die zur Schule gehen und in den sozialen Medien  aktiv sind, sind natürlich häufiger entsprechenden Kommentare und  Angriffen ausgeliefert als etwa Bewohnerinnen eines Altenheims.

Gesundheitskompass: Hilfe finden Betroffene bei Therapeutinnen und Psychologinnen, Expertinnen, die auch zu Ihrem Team gehören. 
P.M.H.: Ja, und eine wichtige Rolle spielt unsere Selbsthilfegruppe. Aktuell  haben wir zwar keine ausdrücklich für Jugendliche, aber sie sind  natürlich willkommen. In den Gesprächsrunden sind Mobbing, Selbstwert  und Emotionen Hauptthemen, wie auch Erfahrungen mit Operationen und  anderen Therapien.

Gesundheitskompass: Fett  sein ist fantastisch, so könnte man die aktuellen Body  Positivity-Bewegung beschreiben. Zunehmend tragen Influencer und Stars  ihr Übergewicht mit Stolz und verkünden, sie seien gesund und fit und  ließen sich nicht länger für krank erklären. 
P.M.H.: Den  ersten Teil kann ich nur begrüßen. Niemand muss und sollte sich für  sein Gewicht schämen und sich schlecht fühlen. Sicherlich kann man fit  und beweglich, schön und eine Stil-Ikone sein, unabhängig vom Gewicht.  Und es ist wichtig, ein Bewusstsein zu schaffen, dass es vielfältige  gesunde Körperformen gibt, und nicht nur die eine Modelnorm. Sich selbst  zu akzeptieren und ein positives Selbstbild zu haben, kann helfen, den  Teufelskreis zu durchbrechen, in dem viele stecken.

Gesundheitskompass: Können Sie bitte ein Beispiel nennen?
P.M.H.: Viele  gehen nicht ins Schwimmbad oder zum Walken, weil sie sich hässlich  fühlen und keine Lust haben, abgestarrt zu werden oder Kommentare zu  hören. Statt in Bewegung zu kommen, bleiben sie frustriert daheim und  essen noch mehr.

Gesundheitskompass: Ist es wirklich nicht möglich, übergewichtig und gesund zu sein? 
P.M.H.: Es  gibt Kinder und junge Menschen, die keine oder wenig Beschwerden haben  und entwickeln. Genauso gibt es Raucher wie Johannes Heesters, die über  100 Jahre alt werden. Doch beide Fälle sind höchst unwahrscheinlich. Der  Normalfall ist leider, dass man im Lauf des Lebens einen sehr hohen  Preis bezahlt.

Gesundheitskompass: Professor Hoffmann, vielen Dank für das Gespräch!

Prof.-Dr.-Alex-Veldman

Foto: Asklepios Kliniken

Professor Dr. Martin Hoffmann ist  Spezialist für Adipositaschirurgie, Refluxchirurgie, Darmchirurgie und  Darmkrebs. Als Chefarzt der Allgemein-, Viszeral- und Minimalinvasiven  Chirurgie der Asklepios Paulinen Klinik Wiesbaden leitet er auch das  Adipositaszentrum, das als Kompetenzzentrum für Adipositas- und  metabolische Chirurgie zertifiziert ist. Zum Team gehören  Endokrinologen, Orthopäden, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten,  Ernährungsmediziner, Ökotrophologen, Viszeralchirurgen und Ärzte für  plastisch-rekonstruktive Eingriffe. Pro Jahr werden rund 600 Menschen  stationär und ambulant behandelt, dazu kommen die Patientinnen und  Patienten in der Nachsorge. 

Foto: Asklepios Kliniken

PD-Dr.-Doris-Fischer

Das Adipositaszentrum Wiesbaden ist auf die Behand-

lung von Übergewicht spezialisiert. Das Team besteht

aus Experten verschiedener Fachrichtungen, wodurch

sie eine umfassende Therapie und Nachsorge aus einer

Hand anbieten können.

Adressen & Informationen

Adipositas Zentrum Wiesbaden
Beratung und interdisziplinäre Behandlungen, basierend auf fünf Säulen:  Medizin, Verhaltenstherapie, Ernährungsberatung, Bewegung und  Selbsthilfe. Plus: Kontakt zur Selbsthilfegruppe.


Bundesministerium für Gesundheit
Analysen, Fakten und Informationen zur Prävention.


Bundesverband der Frauenärzte im Netz e.V.
Studienergebnisse zum Einfluss des Übergewichts der Mutter in der Schwangerschaft auf das Gewicht des Kindes.


Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

Informationen  für betroffene Familien, u.a. zu Ernährung, Bewegung, Medienkonsum,  Schlaf und anderen Ursachen von Übergewicht. Telefon-Hotline: 0221 89 20 31; Mo bis Do 10.00 bis 22.00 Uhr, Fr bis So 10.00 bis 18.00 Uhr; Geführen entsprechend dem Telefontarif.


Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V.
Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter bietet  Termine, Informationen, u.a. zu Kosten von Therapien, und Tools wie eine  Suchmaschine für Behandlungseinrichtungen in Deutschland.


Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. 
Informationsplattform für betroffene Eltern, u.a. gibt es die kostenlose pdf-Broschüre „Mein Kind ist zu dick“


Kinder und Jugendärzte im Netz
Informationen zur Definition von Übergewicht bei Kindern, zu Ursachen, Krankheitsbild, Therapien und zur Vorsorge u.v.m.


Robert Koch Institut (RKI)
„AdiMon“ nennt sich das bevölkerungsweite Monitoring  adipositasrelevanter Einflussfaktoren im Kindes- und Jugendalter. Die  Plattform gibt einen Überblick über die Auswertung und Maßnahmen. Plus:  Download der kostenlosen pdf-Broschüre „Kindliche Adipositas Einflussfaktoren im Blick“

bottom of page