Interview
Letzte Hilfe für Schwerkranke und Sterbende
Ein Lächeln am Ende des Wegs
Welche Rechte und Bedürfnisse haben Schwerstkranke? Die Antwort, die in der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland festgeschrieben ist, lautet in Kurzform: eine pflegerische, medizinische, seelische und spirituelle Versorgung rund um die Uhr, die ein Sterben in Würde gewährleistet. Wiesbaden hat die Charta als eine der ersten Städte umgesetzt: unter anderem mit dem Hospiz-Palliativ-Netz Wiesbaden und Umgebung e.V.. Wir sprachen mit Doris Sattler über Angebote und Wege, die es Sterbenden und ihren Angehörigen ermöglichen, Lebensqualität und auch Glücksmomente zu erleben.
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*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.
"Der Tod bietet auch die Chance, tiefe Dankbarkeit zu empfinden und neue, schöne Seiten zu entdecken"
Foto: ZAPV
Doris Sattler, Hospiz- und Palliative Care Fachkraft, MAS Palliativ Care, arbeitet seit Jahrzehnten mit Sterbenden, Schwerstkranken und den Angehörige und Freunden, die sie pflegen und auf ihrem letzten Weg begleiten: „Sie sind wichtige Mitarbeiterinnen und Partnerinnen für uns Pflegekräfte und für Ärztinnen und Ärzte.“ Seit 2015 koordiniert sie beim Zentrum für ambulante Palliativversorgung in Wiesbaden (ZAPV), einem der Mitglieder im Hospiz-Palliativ-Netz für die Stadt und das Umland, die Einsätze der rund 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung. Dazu leitet sie Seminare, unter anderem Kurse zum Thema Letzte Hilfe für Menschen, die Sterbende begleiten. Mehr Informationen zu ZAPV
Gesundheitskompass für Wiesbaden: Welche Bedürfnisse haben sterbende Menschen?
Doris Sattler: Die meisten von uns wünschen sich, dass ihr Leben im Kreis ihrer Liebsten endet, in vertrauter Umgebung, ohne Angst und möglichst ohne Schmerz. Die Bedürfnisse der Sterbenden sind pflegerischer, medizinischer, psychosozialer und spiritueller Natur. Dass sie in jedem der Bereiche gut versorgt und Symptome überwacht werden, ist übrigens im Hospiz- und Palliativgesetz HPG verankert. Es schreibt die spezialisierte ambulante Palliativversorgung, die SAPV, als individuellen Leistungsanspruch vor.
Gesundheitskompass: Das sind komplexe Aufgaben, die viele Angehörige und andere, die Sterbende und Schwerkranke begleiten, verunsichern können.
Doris Sattler: Ja, zumal wir das Sterben in unserer Gesellschaft bei Seite und ins Romanhafte abschieben. Jeden Abend, wenn wir den Fernseher einschalten, sehen wir Morde und tödliche Unfälle. Aber im echten Leben verdrängen wir den Tod, bis er uns unmittelbar betrifft, weil ein geliebter Mensch sterben wird.
Gesundheitskompass: Und dann reagieren viele hilflos.
Doris Sattler: Richtig. Sie benötigen dann die Unterstützung des Palliative Care Teams, der Pflegedienste und des Hospizdienstes. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Angebote ist zunächst das Hören auf das, was gebraucht wird, und dann die Hilfe und Begleitung für den Sterbenden und für die Angehörigen.
Gesundheitskompass: Welche Fragen von Angehörigen hören Sie häufig?
Doris Sattler: Es sind Fragen zur der medizinischen Versorgung, aber auch ihre psychosozialen, ihre spirituellen Themen sind von Bedeutung. Sie wollen den Verlauf einer Erkrankung tiefer verstehen, sie wollen in ihrer Trauer, Abschied nehmen zu müssen, in ihrer Sorge, was noch auf sie zukommen kann, gehört werden. In der medizinischen Betreuung bekommen sie von Pflegefachkräften und Ärzten des SAPV-Teams eine ausführliche Einweisung und Schulung, wie und wann Medikamente zu geben sind und welche anderen Maßnahmen bei den häufigsten Symptomen wie Schmerzen, Übelkeit, Angstzustände, Schwäche und Atemnot helfen können. Und sie können die Notfallnummer, die sie bekommen, bei Unsicherheiten jederzeit erreichen.
Gesundheitskompass: Welche anderen, sanften Maßnahmen können auch helfen?
Doris Sattler: Einfache Dinge, bei Atemnot zum Beispiel das Hochlagern des Oberkörpers mit Kissen unter den Armen oder unter dem Rücken, um den Brustraum zu erweitern und das Atmen zu erleichtern. Übelkeit kann ein Tee lindern und die Angst ein Gespräch oder gemeinsames Musikhören. Und bei Schmerz kann man es mit sanftem Einreiben und Massieren versuchen, mit Kälte- oder Wärmekissen oder, wie bei Kindern, mit Zuwendung und Ablenkung.
Gesundheitskompass: Können Sie bitte eine häufig gestellte seelische Frage nennen?
Doris Sattler: Angehörige fragen, wie sie ihre eigene Angst, Trauer und Verzweiflung vor Sterbenden verbergen können, denn sie wollen ihre Liebsten nicht zusätzlich belasten.
Gesundheitskompass: Und wie?
Doris Sattler: Ich empfehle, die eigenen Gefühle zu zeigen. Wie Menschen, die mitten im Leben stehen, schätzen auch Sterbende Aufrichtigkeit. Sprechen Sie aus, wie Sie empfinden. Sagen Sie, wie schwer Ihnen der Abschied fällt, dass Sie traurig, erschöpft und verzweifelt sind über das Leid und den Tod. Auch das Weinen, auch gemeinsam, kann entlastend sein. Meiner Erfahrung nach, kann Aufrichtigkeit Sterbende besser trösten als eine mühsam gewahrte Fassung.
Gesundheitskompass: Brauchen Sterbende Trost?
Doris Sattler: Ja, in unterschiedlicher Weise, und alle brauchen Zuwendung. Sterbende ziehen sich in sich zurück. Sie erscheinen abwesend, manchmal sogar abweisend. Viele Angehörige deuten das Verhalten als Ablehnung oder sogar Feindseligkeit, dabei ist es ein Teil des Sterbeprozesses. Es hilft Sterbenden, wenn man als Wegbegleiterin liebevoll und zugewandt dableibt und sich bewusst macht, dass Sterben wie Trauern ein Prozess ist, in dem Angst, Wut, Depression, Widerstand und auch der Rückzug normal sind.
Gesundheitskompass: Wie kann man sich Sterbenden, etwa dem Schwiegervater, den man nicht umarmt und geküsst hat, als er gesund war, liebevoll zuwenden?
Doris Sattler: Durch Dasein! Und mit behutsamen Worten und Berührungen, zarten, vorsichtigen Gesten. Ein Liebesdienst ist auch die Mundpflege. Sie ist wichtig. Die meisten Patienten atmen oft mit geöffnetem Mund, darum ist er trocken. Es erfrischt sie, wenn man die Mundhöhle und Lippen befeuchtet und reinigt.
Gesundheitskompass: Gibt es sie wirklich, die Momente, in denen Todkranke noch einmal scheinbar neue Kraft schöpfen und plötzlich wieder präsent sind?
Doris Sattler: Ja, das kommt vor. Menschen, die nicht mehr essen und kaum trinken, wünschen sich plötzlich ihre Lieblingsspeise wie Pommes oder ein Glas Bier. Diese Wünsche sollte man möglichst erfüllen. Einige haben das Bedürfnis sich zu verabschieden oder Dinge auszusprechen, die bisher ungesagt geblieben sind. Sie wollen Konflikte abschließen und Versöhnung, fast alle Menschen wollen in Frieden gehen. Das kann eine sehr intensive und positive Erfahrung sein.
Gesundheitskompass: Und was, wenn Sterbende wütend sind und hadern: Warum ich, warum schon jetzt?
Doris Sattler: Darauf gibt es nicht die eine Antwort. Aber es hilft, auf die Frage einzugehen, etwa zu sagen: ,Ich höre, was dich beschäftigt, wie schwer es für Dich ist`. Wir denken immer, dass wir Antworten haben müssen, doch oft hilft Mitgefühl, auch ohne Worte, besser.
Gesundheitskompass: Auch bei Sinnfragen, was kommt nach dem Tod?
Doris Sattler: Ja, auch solche Gespräche brauchen das offene Herz. Steckt Angst hinter der Frage oder ein intellektuelles oder spirituelles Interesse? Vielleicht, wenn der Sterbende wach genug ist, kann man genauer nachfragen und -hören, was genau ihn beschäftigt. Vielleicht will er oder sie über philosphische oder religiöse Fragen sprechen, vielleicht mit einem Seelsorger. Auch diesen Wunsch sollte man ihnen erfüllen.
Gesundheitskompass: Was, wenn Angehörigen der Tod zuviel wird, wenn die Pflege sie überfordert und sie sagen: ,Ich kann nicht mehr`?
Doris Sattler: Auch darüber können sie mit uns sprechen, und wir helfen dabei, eine Lösung zu finden, etwa durch ehrenamtliche Unterstützung oder die Aufnahme in ein Hospiz.
Gesundheitskompass: Erleben Sie es oft, dass Sterbende zuhause, umsorgt von ihrer Familie sterben?
Doris Sattler: Ja natürlich, aber viele sterben in einem Heim, einer Klinik oder in einem Hospiz. Für die meisten Angehörigen ist es eine Bereicherung, einen geliebten Menschen auf den letzen Schritten seines Weges bei sich zu haben. Das Sterben eines geliebten Menschen zu erleben, ist eine existenzielle Erfahrung, aus der man sehr viel Gutes lernen kann.
Gesundheitskompass: Zum Beispiel?
Doris Sattler: Die meisten Menschen, die einen Sterbenden begleitet haben, sind danach sensibler und empfänglicher. Es fällt ihnen leichter sich zu öffnen. Diese Wandlung geschieht nicht sofort, und sie ist schmerzlich. Aber wenn sie vollzogen ist, ist der Blick auf das Leben neu, und es besteht die Chance, ganz neue Seiten kennenzulernen und tiefe Dankbarkeit zu empfinden.
Gesundheitskompass: Frau Sattler, vielen Dank für das Gespräch.
Adressen & Informationen
Das Hospiz-Palliativ-Netz Wiesbaden und Umgebung e.V., gegründet 2013, hat mehr als 50 Mitglieder, neben ambulanten Pflegediensten wie ZAPV, Palliativärzte, Kliniken, Apotheken, Sanitätshäuser, Alten- und Pflegeheime, Seelsorger, Hospizvereine und stationäre Hospize. Der Verbund gewährleistet die stationäre und ambulante medizinische, psychosoziale und spirituelle Versorgung rund um die Uhr in Wiesbaden und im Umland. Oftmals gibt es eine enge Zusammenarbeit mit Angehörigen und Wegbegleitern der Patienten. Mehr Informationen
Die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, wurde von den drei Trägern erarbeitet: der Bundesärztekammer, der Gesellschaft für Palliativmedizin und dem Deutschen Hospiz- und Palliativverband e.V. und wird unter anderem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. In fünf Leitsätzen beschreibt die Charta Aufgaben, Ziele und den Handlungsbedarf für die betroffenen Menschen: Sie haben das Recht auf eine medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die sich an ihrer individuellen Lebenssituation orientiert, und sie haben das Recht auf den Zugang zu dieser Versorgung. Um ihn zu gewährleisten, fördert das Projekt die Vernetzung der Hospiz- und Palliativversorgung in den Kommunen und weitere Maßnahmen. In Wiesbaden gibt es auch den Palliativpass, ein Dokument für Patienten, deren Lebenszeit sehr begrenzt ist. Sie können darin nach ausführlicher ärztlicher Beratung festlegen, dass sie in einer Notfallsituation keine intensivmedizinische Behandlung wünschen und nicht in die Klinik eingewiesen, sondern mit palliativer Unterstützung in ihrer vertrauten Umgebung bleiben wollen. In diesem Jahr feiert die Charta zehnjähriges Jubiläum. Mehr Informationen