Interview
Auszeit vom Alkohol
Klarheit und Gesundheit: Warum eine alkoholfreie Phase Wunder wirken kann
Dry Try lädt mit Dry January und Sober Spring (nüchterner Frühling) Menschen in aller Welt ein, eine Weile auf Alkohol zu verzichten. Wir stellen die britische Initiative vor und nennen gute Gründe mitzumachen – egal wann und wie lange. Was es dabei zu bedenken gibt, erklärt Jochen Mehlmann, stellvertretender Leiter des Suchthilfezentrums Wiesbaden.
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*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.
Foto: unsplash
Was ist ?
Die Initiative aus Großbritannien ruft seit zehn Jahren Millionen Menschen in aller Welt auf, einen Monat lang – oder länger – auf Alkohol zu verzichten. 2023 beteiligt sich erstmals Deutschland aktiv: Das Blaue Kreuz e.V. hat die Lizenz erworben, Hauptsponsor ist die Techniker Krankenkasse und Schirmherr der Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen Burkhard Blienert. Er sagt: „Jeder Tag ohne Alkohol ist ein guter Tag für die Gesundheit und beugt aktiv einer Suchtentwicklung vor.“
An wen richtet sich ?
Ein Glas Wein zum Essen, danach Verdauungsschnaps – und schon ist man in der Gefahrenzone gelandet: Zwölf Gramm Alkohol, etwa ein kleines Glas Wein, für Frauen und die doppelte Menge für Männer, jeweils an fünf Tagen pro Woche, gelten laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung als risikoarm. Pro Kopf konsumieren die Deutschen rund zehn Liter reinen Alkohol pro Jahr (risikoarm wären etwa 3,5 Liter). Damit nehmen sie einen Platz in den internationalen Top-Ten ein. 7,9 Millionen der 18- bis 64-Jährigen konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form, problematisch ist der Alkoholkonsum bei etwa neun Millionen dieser Altersgruppe, so das Bundesministerium für Gesundheit.
Wie funktioniert ?
Ja, ich will. Mehr als der einfache Beschluss ist nicht nötig. Aber weil er oft gar nicht so einfach durchzusetzen ist, bietet die Initiative Unterstützung. Wer den Newsletter abonniert, kann von Erfahrungen anderer profitieren: Wie gehen sie damit um, wenn sie in Gesellschaft einen Drink ablehnen und zu hören bekommen, eine Spaßbremse zu sein? Welche nicht alkoholischen Drinks schmecken? Und was tun, wenn man Abends beim Krimi schauen dauernd ein Glas Bier vor Augen hat?
Warum lohnt sich ?
Viele Teilnehmerinnen berichten von spürbaren Effekten schon nach wenigen trockenen Tagen: Sie fühlen sich energiegeladener, konzentrierter, fitter. Die kostenlose App Try Dry belohnt mit Fleißkärtchen und motivierenden Fakten: Der Schlaf wird tiefer, die Haut besser. Leber, Verdauung und Immunsystem erholen sich nach einem Monat, auch das Risiko von Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen nimmt ab. Und mit einem Fingerwisch erfährt man, wieviel Geld und wieviele Kalorien man gespart hat.
Wo erfahre ich mehr über ?
Weitere Informationen bietet die Inititative Dry January – , übrigens auch zum „nüchternen Frühling", „Sober Spring“ und anderen Zielen.
Downloads der kostenlosen App Try Dry gibt es in den Stores für Geräte von Apple und Android.
Ohne Alkohol lüftet sich ein Schleier“
Foto: privat
Jochen Mehlmann ist Diplomsoziologe und stellvertretender Leiter
des Suchthilfezentrums Wiesbaden.
Gesundheitskompass für Wiesbaden: Pro Jahr wenden sich etwa 150 Menschen wegen Alkohol an Ihre Beratungsstelle. Wie vielen würden Sie empfehlen, wie beim „Dry January“, einen Monat lang testweise auf Alkohol zu verzichten?
Jochen Mehlmann: Da muss man immer den Einzelfall berücksichtigen, die Konsummuster, Gewohnheiten und die individuelle Problematik. Ein spontaner Selbstversuch ist jedenfalls nicht die Lösung, die ich bei einem Verdacht auf eine bestehende Sucht vorschlagen würde.
Gesundheitskompass: Warum nicht?
J.M.: Bei schwerer Abhängigkeit können zum Beipiel gefährliche Symptome auftreten, wenn man von einem Tag auf dem anderen nicht trinkt, darunter Kreislaufversagen und Halluzinationen.
Gesundheitskompass: Sie stimmen also dem Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen Burkhard Blienert nicht zu. Er sagt: „Jeder Tag ohne Alkohol ist ein guter Tag für die Gesundheit und beugt aktiv einer Suchtentwicklung vor."
J. M.: Doch ich stimme ihm zu, aber mit der genannten Einschränkung. Und ich würde die Aussage ergänzen. Jeder Tag ist ein guter Tag, der nicht nur eine aufschiebende Wirkung hat.
Gesundheitskompass: Das bedeutet, wer einen gewissen Zeitraum lang nicht trinkt, nur um danach umso mehr zu trinken, hat wenig gewonnen?
J.M.: Richtig. Es geht beim alkoholfreien Monat ja vor allem darum, die Konsumgewohnheiten zu überdenken und zu ändern. Menschen, die schwer süchtig sind, brauchen dafür ärztliche und therapeutische Unterstützung. Es wäre geradezu leichtfertig, ihnen einen unbegleiteten Selbstversuch vorzuschlagen.
Gesundheitskompass: Sie können ihn aber Menschen mit Gewohnheitskonsum ohne schwere Sucht empfehlen?
J.M.: Unbedingt, wenn es sich tatsächlich um einen relativ geringen, unproblematischen Gewohnheitskonsum handelt! Wie gesagt, wchtig ist, an konsumfreien Tagen zu reflektieren. Wann, warum, wieviel trinke ich? Welchen Stellenwert nimmt es ein, welche Funktion hat mein Trinken?
Gesundheitskompass: Empfehlen Sie auch die „Dry January“-App „Try Dry“?
J.M.: Ja, denn sie hilft beim Reflektieren. Sie dokumentiert Fortschritte, das Befinden, und sie belohnt mit Fleißpunkten. Außerdem bekommt man Tipps und Erfahrungsberichte von Teilnehmern aus aller Welt. Man ist Teil einer Gruppe. Auch das motiviert und hilft beim Durchhalten und beim Einordnen und Überdenken des Trinkverhaltens.
Gesundheitskompass: Angenommen, das Verlangen wird nach wenigen Tagen so stark, dass man es gerade noch unterdrücken kann. Ist man in dem Fall schon suchtgefährdet?
J.M.: Sucht zeigt sich insbesondere als ein unabweisbares Verlangen und in dem Verlust von Kontrolle. Wenn das Nichttrinken problematisch ist, ist es also ein guter Zeitpunkt, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Die Gespräche sind kostenfrei, anonym und verpflichten zu nichts. Sie können helfen, eine entstehende Sucht zu erkennen und zu verhindern.
Gesundheitskompass: Viele schreckt die Vorstellung einer lebenslangen Abstinenz. Ist sie die einzige Möglichkeit, Sucht zu verhindern?
J.M.: Völlige Abstinenz ist sicherlich die beste Möglichkeit. Wer sein gelegentliches, folgenfreies, also risikoarmes Konsumieren beibehalten will, dem rate ich, gelegentlich innezuhalten und über die Funktion des Trinkens zu reflektieren. Für solche präventiven Gespräche stehen wir von der Suchtberatung ebenfalls gern zur Verfügung.
Gesundheitskompass: Es gibt keinen risikofreien Alkoholkonsum, lediglich risikoarmen. Gibt es eine erkennbare Schwelle, an der es gefährlich wird?
J.M.: Ja. Wer sich immer wieder vornimmt, nicht zu trinken, und immer wieder scheitert, sollte das als Anzeichen eines vermutlichen Suchtproblems ernst nehmen. Man plant zum Beispiel, mit der Frau schön essen zu gehen, trinkt dann aber vorher so viel Wein, dass es unmöglich wird. Oder man betrinkt sich das ganze Wochenende, obwohl man am Montag einen wichtigen Termin hat …
Gesundheitskompass: … und erfindet Ausreden.
J.M.: Genau, die Montagsgrippe. Man belügt andere über den Konsum, trinkt heimlich, leugnet, dass man getrunken hat oder sucht Anlässe zu trinken, zum Beispiel den Verdauungsschnaps, ohne den angeblich der Magen rebelliert, oder das Glas Wein zum Einschlafen.
Gesundheitskompass: Das regelmäßige Glas Wein zum Einschlafen ist riskant?
J.M.: Ja, es kann riskant sein. Denn was bedeutet es denn, dass Sie ohne nicht einschlafen können? Es bedeutet, dass Sie auf eine Substanz angewiesen sind, um sich ein Grundbedürfnis, den Schlaf, erfüllen zu können.
Gesundheitskompass: Und wer morgens einen Kaffee braucht, um wach zu werden, ist abhängig von Koffein?
J.M.: Wenn es tatsächlich so wäre, ja. Abstinente Zeiten regen an, genau über solche Themen nachzudenken und Gewohnheiten und Verhalten kritisch zu hinterfragen. Sucht hat viel mit Selbstverleugnung und Selbstbetrug zu tun. Es ist nicht einfach, sich selbst einzugestehen, abhängig zu sein. Abstinenz kann helfen, dass es gelingt.
Gesundheitskompass: In vielen Fällen ist es das innere Eingeständnis, das Menschen an der Schwelle zur Sucht davon abhält, zur Beratung zu gehen. Denn ein Problem, das man nicht ausspricht, lässt sich einfacher vor sich selbst verstecken.
J.M.: Richtig, und das Verstecken vor sich selbst ist wiederum ein Symptom der Sucht. Das ist ein Teufelskreis. Man muss sich ein Herz nehmen, ihn zu durchbrechen, sich zu trauen, auch beim ersten Verdacht eine Beratungsstelle anzurufen. Man kann davon nur profitieren.
Gesundheitskompass: Angenommen, nach einigen alkoholfreien Tagen treten körperliche Symptome auf, man schwitzt, ist nervös, schläft unruhig, hat Kopfweh und keinen Appetit. Ist das bedenklich?
J.M.: Alle, die einmal mehr getrunken haben, als sie vertragen, kennen den Kater, also Beschwerden, wie sie auch bei einer Auszeit auftreten können. Wer zuvor keinen regelmäßigen, hohen Konsum hatte, muss dadurch keine längerfristigen körperlichen Schäden befürchten. Den anderen rate ich, unbedingt Rücksprache mit ihrem Arzt zu halten.
Gesundheitskompass: Viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen von Dry January berichten, dass sie sich schon nach wenigen Tagen körperlich vitaler und geistig präsenter fühlen.
J.M.: Ja, natürlich. Alkohol ist ein Giftstoff. Er belastet Organe und Kreislauf, und er dämpft die Wahrnehmung. Letzteres erleben viele erst einmal als angenehm und beruhigend. Aber mittelfristig verliert man an Präsenz und den Kontakt zur Außenwelt. Ohne Alkohol lüftet sich ein Schleier.
Gesundheitskompass: Angenommen, man schafft einen Monat ohne, und zwar ohne in der Folge umso mehr zu trinken. Ist das der Beweis, dass die Trinkgewohnheiten risikoarm sind?
J.M.: In der Regel ja, vor allem dann, wenn man Konsumgewohnheiten während der Zeit auch überdacht hat. Doch wie immer kommt es auf den Einzelfall an. Interessanterweise trinkt die Mehrzahl der Teilnehmerinnen nach dem „Dry January“ langfristig weniger. Sie haben erlebt, dass es Vorteile hat und Spaß macht, nüchtern und klar zu sein.
Gesundheitskompass: Und man spart Geld, verliert Pfunde und hat mehr Zeit für Hobbys oder die Familie, weil man ohne Alkohol besser schläft und keinen Hangover mehr auskurieren muss. Wie lange muss eine Abstinenzphase mindestens sein für eine spürbare positive Wirkung, reicht schon eine Woche?
J.M.: Jeder Tag zählt, je länger, desto besser. Ein Monat ist sicherlich ein gutes Ziel, das die meisten Menschen, die keine manifeste Sucht haben, erreichen dürften. Weitere von der App unterstütze Programme sind ,Dry Spring', also der abstinente Frühling, und ,Sober October', der nüchterne Oktober. Beides kann ich allen, die risikoarm konsumieren, nur empfehlen!
Gesundheitskompass: Sehr geehrter Herr Mehlmann, vielen Dank für das Gespräch!
Strategien gegen ein übermächtiges Verlangen
+ Machen Sie sich bewusst, dass das Verlangen nur wenige Minuten andauern wird.
+ Erfinden Sie ein Ritual wie Tee kochen, mit dem Hund spielen, Atemübungen machen, Freunde und „Mitstreiter“ anrufen.
+ Kämpfen Sie nicht gegen das Verlangen an, sondern spüren Sie ihm nach und nutzen Sie es zur Reflektion: Was genau fühle ich, warum will ich ausgerechnet jetzt trinken … .
+ Falls Sie nachgeben, betrachten Sie es nicht als Scheitern, sondern als Teil des Prozesses, abstinent zu sein – und versuchen Sie es unbedingt weiter!
Adressen für Betroffene und Angehörige
+ Bei Fragen zu Konsumverhalten und Sucht – nicht nur Alkohol, sondern andere Substanzen und Verhalten betreffend – berät das Suchthilfezentrum Wiesbaden.
+ Anlaufstellen im Raum Wiesbaden, darunter den Ortsverein Wiesbaden des Dry-January-Mitorganisators Blaue Kreuz e.V., listet die Hessische Landesstelle für Suchtfragen e.V. (HLS).
+ Ein Verzeichnis für Suchthilfestellen deutschlandweit bietet die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V. (DHS).
+ Ist Ihr Alkoholkonsum risikoarm? Der Gesundheitskompass-Präventionsberater zum Konsumverhalten kann Ihnen in wenigen Minuten helfen, die Frage abzuklären, entsprechen zu handeln und Beratungsstellen in der Region zu finden.
+Selbsthilfegruppen für Menschen mit Alkoholproblemen und Angehörige finden Sie im Gesundheitskompass für Wiesbaden.