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Interview

Impfungen

Warum wir den geltenden Impf­emp­feh­lun­gen Ver­trauen schen­ken können

Angst vor Nebenwirkungen und Langzeitschäden, religiöser Glaube, Irrglaube an Verschwörungen – das Spektrum der Gründe, warum sich so viele Menschen gegen Impfungen entscheiden, ist breit. Von „Impfzurückhaltung“ spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO und listet sie als eine der zehn größten Bedrohungen für die Gesundheit. Professor Dr. med. habil. Michael Pietsch erklärt, warum Skepsis Ernst zu nehmen ist, ein  genereller Unwille jedoch Leben kostet. Plus: Adressen und Informationen zu Impfungen im Allgemeinen und zu Corona

ca. 7 Minuten

*Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form, meinen jedoch Menschen aller Geschlechter.

Foto: Wix

Impfung

„Wir dürfen nicht vergessen, dass die Alternative zur Impfung Leid und Tod sind“

Prof Pietsch

Foto:privat

Prof. Dr. med. habil. Michael Pietsch ist am 22. September 2022 verstorben. Wir führten das Interview im Januar des Vorjahres. Er war Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin sowie Tropenmediziner und leitete die Abteilung für Hygiene und Infektionsprävention und die Krankenhaushygiene der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Weiterhin war er Leiter der Reise- und Tropenmedizinische Beratungsstelle der Universitätsmedizin Mainz, Mitglied der AG Impfen des Sozialministeriums Rheinland-Pfalz, Beratender Sanitätsoffizier der Sanitätsakademie der Bundeswehr und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats von Fachzeitschriften. 

Gesundheitskompass für Wiesbaden: Zum Start der Corona-Impfungen in Deutschland wäre eine allgemeine große Erleichterung zu erwarten. Zahlen zeichnen aber ein anderes Bild: Nach der Umfrage einer großen Krankenkasse wollen sich mehr als 22 Prozent nicht impfen lassen, mehr als 25 Prozent geben an, ratlos zu sein. Wie erklären Sie das?
Prof. Dr. med. Michael Pietsch: Diese übrigens auch unter medizinisch geschulten Menschen verbreitete Skepsis gibt es leider, und zwar nicht nur gegen die Corona-Vakzine, sondern generell gegen Impfstoffe. Die Gründe sind vielschichtig. Eine wichtige Rolle spielt sicherlich die Flut an Informationen und eben auch an Desinformationen, der wir ausgesetzt sind. Fakten und Fiktionen vermengen sich und schüren Ängste, die wissenschaftlich nicht zu begründen sind.

Gesundheitskompass: Im Zusammenhang mit Corona-Impfstoffen taucht in den Medien immer wieder der Begriff Notfallzulassung auf. Das klingt nach kurzer Testphase und weckt nicht gerade Vertrauen.
Prof. Pietsch: Eine Notfallzulassung gibt es bei uns nicht. Alle Impfstoffe werden von der europäischen Behörde EMA geprüft und dann jeweils regulär zugelassen. Die Beschleunigung bei den Corona-Impfstoffen war möglich, weil schon während der Studienphase Daten kontinuierlich an die Zulassungsbehörden übermittelt wurden und nicht erst, wie üblich, nach Abschluß in gesammelter Form.

Gesundheitskompass: Erfahrungen mit Langzeitwirkungen konnte man in der kurzen Entwicklungsphase der neuartigen mRNA-Vakzine aber nicht sammeln. Unsere Generation ist mit den Folgen von Contergan aufgewachsen, das zwar kein Impfstoff war, aber ebenfalls ein zugelassenes Medikament. Ist die Befürchtung junger Familien, dass ihre künftigen Kinder durch pharmazeutische Stoffe geschädigt wegen könnten, wirklich nur Fiktion?
Prof. Pietsch: Sie können die Zulassungsverfahren vor weit mehr als einem halben Jahrhundert nicht mit der modernen Wissenschaft und Technologie von heute vergleichen. So eine Katastrophe ist eigentlich nicht mehr möglich. Und ja, im Fall des Corona-Impfstoffs auf mRNA-Basis ist die Sorge um geschädigtes Erbgut unbegründet. Der Impfstoff kann nämlich auf unsere Erbinformationen gar nicht einwirken, da er keinen Kontakt zur DNA im Zellkern hat. Die verabreichte mRNA ist lediglich in der Lage, ein Protein zu bilden, das das Immunsystem des Geimpften aktiviert, Schutzstoffe gegen das Corona-Virus zu bilden. Gene sind dabei nirgendwo im Spiel.

Gesundheitskompass: Großbritannien, das als erstes europäisches Land Corona-Impfungen durchgeführt hat, setzt sie inzwischen bei Allergikern wieder aus. Welche Gefahr besteht?
 

Prof. Pietsch: Bei allen Impfungen kann es zu Nebenwirkungen kommen wie Schmerzen an der Impfstelle, Müdigkeit oder zu einer kurzfristig erhöhten Temperatur. Sehr selten tritt eine allergische Reaktion ein und noch viel seltener ein anaphylaktischer Schock. Beide Risiken haben in der Regel nichts mit dem eigentlichen Impfstoff zu tun haben, sondern mit den Zusatzstoffen, und beide Risiken bestehen, besonders für Allergiker. Doch dagegen kann man Vorsorge treffen. Wesentlich größer ist das Risiko einer Nichtimpfung, nämlich der eigene Tod und der Tod der Menschen, die man anstecken kann.

Gesundheitskompass: Sie sind seit 35 Jahren Mediziner und haben allein in der Reise- und Tropenmedizinischen Beratungsstelle der Universitätsmedizin Mainz zigtausende Patienten geimpft. Wie oft haben Sie schwerwiegende Schockreaktionen in Ihrer Praxis erlebt?
Prof. Pietsch: In dieser Zeit habe ich geschätzt etwa 50.000 Impfungen durchgeführt. Persönlich habe ich dabei keinen anaphylaktischen Schock erlebt. In unserem Impfzentrum ist das in 50 Jahren Bestehen erst zweimal der Fall gewesen. Es waren beides Reaktionen auf Gelatine, einen Bestandteil einzelner Impfstoffe.

Gesundheitskompass: Bestand Lebensgefahr?
Prof. Pietsch: Nein. Wenn ein anaphylaktischer Schock eintritt, gibt es Medikamente zur Behandlung, die in jeder Arztpraxis oder Impfstelle sofort zur Anwendung kommen. Deshalb gehen Patienten generell nach einer Impfung, auch nach der Corona-Impfung, nicht direkt nach Hause, sondern bleiben zur Nachbeobachtung eine gewisse Zeit in der Praxis oder Impfstelle.

Gesundheitskompass: Lassen sich Impfgegner mit Erfahrungswerten und mit wissenschaftlich fundierten Argumenten überzeugen?
Prof. Pietsch: Eigentlich nicht, leider. Wer Impfungen aus irrationalen Gründen ablehnt, etwa Angehörige sektiererischer Gruppen oder Verschwörungstheoretiker, ist damit nicht zu erreichen. Aber für Maskengegner habe ich zwei Zahlen, die vielleicht ein Umdenken einleiten können.

Gesundheitskompass: Welche Zahlen sind das?
Prof. Pietsch: Seit Einführung des Mund-Nasen-Schutzes im Frühjahr sind Masernerkrankungen in Deutschland um über 80 Prozent zurückgegangen und Windpockenerkrankungen um etwa 50 Prozent. Masken wirken nicht nur gegen das Corona-Virus, sondern generell gegen respiratorische Virusinfektionen.

Gesundheitskompass: Die WHO spricht von Impfzurückhaltung, das Verhalten ist weltweit verbreitet und eine der zehn größten Gesundheitsbedrohungen der Menschheit. Spricht das nicht aus medizinischer Sicht für eine Impfpflicht?
Prof. Pietsch: Rein medizinisch betrachtet vielleicht schon. Aber zum Glück leben wir in einem Land, in dem neben der Gesundheit auch die Freiheit ein hohes Gut ist. Die Politik muss beiden Werten gerecht werden, und das verträgt sich nicht mit Zwangsimpfungen für die gesamte Bevölkerung. Ich wage die Prognose, dass es eine solche Maßnahme auch bei der Corona-Impfung  nicht geben wird.

Gesundheitskompass: Aber vielleicht eine Maßnahme, die mit dem Masernschutzgesetz zu vergleichen ist, das seit 2020 in Kraft ist. Für betreute Kinder und Schulkinder gibt es seither eine Impfpflicht, und auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, etwa in medizinischen Einrichtungen, müssen geimpft sein.

Prof. Pietsch: Ja, eine Entscheidung gegen die Masernimpfung ist nicht in jedem Fall möglich und kann Auswirkungen zum Beispiel auf die Berufswahl haben. Bei einer fehlenden Corona-Impfung sind durchaus zukünftig Einschränkungen beim Reisen denkbar, wie es ja auch bei der Gelbfieber-Impfung der Fall ist. Ohne Impfnachweis darf man dann nicht in ein bestimmtes Land einreisen.

Gesundheitskompass: Was sagen Sie Eltern, die ihre Kinder nicht gegen Masern, Mumps, Windpocken und Röteln impfen lassen wollen?
Prof. Pietsch: Ich nehme die Bedenken ernst. Nicht jede Skepsis ist unberechtigt, und jeder hat das Recht, Risiken abzuwägen oder den Zeitpunkt für die Impfung zu bestimmen. Natürlich muss immer überprüft werden, ob es ein wichtiges Impfhindernis gibt. Die genannten Impfstoffe enthalten zum Beispiel lebende Erreger. Bei Menschen mit einem geschwächten oder unterdrückten Immunsystem dürfen sie nicht eingesetzt werden, da sich in ganz seltenen Fällen das Impfvirus wieder zum krankmachenden Virus zurückbilden kann. Darüber kläre ich die Patienten natürlich auf.

Gesundheitskompass: Nicht wenige Eltern glauben, dass eine Masernimpfung die Entwicklungsstörung Autismus begünstigt.
Prof. Pietsch: Das ist ein typisches Beispiel für Fehlinformation. Der Irrglaube geht auf eine nachweislich gefälschte Studie zurück und hält sich aller Gegenbeweise zum Trotz hartnäckig.

Gesundheitskompass: Als wir Kinder waren, vor einem halben Jahrhundert, gab es weder Impfungen gegen diese sogenannten Kinderkrankheiten, noch hatte man Angst vor ihnen. Es war normal, sie früher oder später durchzumachen. Sind die Erreger seit damals aggressiver geworden?
Prof. Pietsch: Nein, die Erreger haben sich nicht verändert. Man lebte damals allerdings in dem Bewusstsein, dass man eine Ansteckung nicht verhindern konnte, Angst hätte also wenig geholfen. Die Menschen gingen pragmatisch mit den Erkrankungen um, aber es sind natürlich sehr viel mehr Kinder gestorben und geschädigt worden als heute. Leider gibt es immer noch schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle, obwohl diese durch Impfungen vermieden werden könnten.

Gesundheitskompass: Am Beispiel der Pocken hat sich gezeigt, dass strenge Impfregeln eine Krankheit ausrotten können.
Prof. Pietsch: Ja, auch bei der Poliomyelitis, der Kinderlähmung, sind wir auf einem guten Weg. Durch massive Impfkampagnen hat man bereits zwei von drei Polioviren eradizieren können. Auch bei der Diphtherie sind wir sehr weit gekommen durch die Impfung, aber auch durch die besseren Lebensverhältnisse und die bessere Ernährungssituation.

Gesundheitskompass: Die Vergangenheit zu verklären, ist also, was das Thema Impfen betrifft, falsch.
Prof. Pietsch: Ja. Ich besitze eine antiquarische Postkarte aus den 1930er Jahren aus Breslau, mit der eine Familie aufgefordert wird, das Kind zur Impfung im Gesundheitsamt vorzustellen. Darauf findet sich die Begründung, dass jährlich in Breslau 100 Kinder an Diphtherie versterben. Wenn man das mit dem Mainz von heute vergleicht, bedeutet es, dass jedes Jahr etwa 30 Kinder an Diphtherie versterben würden. Das sind unvorstellbare Zahlen, zum Glück. Und sie verdeutlichen, wie weit wir in der Infektionsprävention gekommen sind.

Gesundheitskompass: Was halten Sie von Grippeimpfungen zu Coronazeiten?
Prof. Pietsch: Ich befürworte sie, sie schützen nicht nur den Einzelnen, sondern helfen, Ärzte und Krankenhäuser zu entlasten. Man braucht sich auch keine Sorgen zu machen, dass der Impfstoff knapp wird. Deutschland hat 25 Millionen Dosen freigegeben, das wird ausreichen.

Gesundheitskompass: Beim Corona-Impfstoff wird wohl mit Engpässen zu rechnen sein. Bei der erforderlichen Zweifachdosis wären 160 Millionen Dosen notwendig. Im Januar werden aber nur drei bis vier Millionen zur Verfügung stehen, schätzt der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn.
Prof. Pietsch: Er schätzt auch, dass es mindestens bis in den Herbst dauern wird, bis 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geschützt sind. Laut WHO ist das der Wert, mit dem die Pandemie beherrscht werden kann. Aber ich hoffe, dass die geltende Impfempfehlung sehr viel schneller die Sterblichkeit und die Auslastung der Intensivstationen senken wird.

Gesundheitskompass: Gibt es eine der empfohlenen Impfungen, von der Sie abraten?
Prof. Pietsch: Nein. Ich kenne Menschen, die lassen sich gegen alles impfen, was möglich ist, um beim Reisen die größte Freiheit zu haben. Das ist zwar nicht gesundheitsschädlich, aber vielleicht ein wenig übertrieben.

Gesundheitskompass: Professor Pietsch, vielen Dank für das Gespräch.

Adressen & Informationen

 

Die Ständige Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (STIKO) ist das Expertengremium, das nach dem Infektionsschutzgesetz für Deutschland geltende Impfempfehlungen erarbeitet. Anschauliche Faktenblätter zu den empfohlenen Impfungen für Kinder und Erwachsene, auch zu Impfungen während der Schwangerschaft bietet die Seite des RKI

Das Paul-Ehrlich-Institut ist als Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und bietet ausführliche Informationen.

Den RKI-Impfkalender, der eine Übersicht über empfohlene Impfungen und Zeitpunkte gibt, finden Sie auch hier als Download

Kosten für die empfohlenen Schutzimpfungen übernehmen die Gesetzlichen Krankenversicherungen, dazu sind sie hierzulande per Gesetz verpflichtet. Übersichten bieten die Krankenkassen, z. B.:
Deutsche Familienversicherung
AOK 

Impfungen von A bis Z werden z. B. auf dem Portal des Pharmakonzerns GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG gut verständlich erklärt, unter impfen.de

Das Gesundheitsamt Wiesbaden informiert über Impfungen im Allgemeinen

Deutschland sucht den Impfpass heißt eine Aktion der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu den empfohlenen Schutzimpfungen und ihrer Dokumentation.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erarbeitet zur Zeit die Smart Yellow Card, ein global einheitliches Impfzertifikat, das für Reisende ein wichtiges Dokument werden dürfte. Informationen dazu, auf Englisch

Die Bundesregierung informiert über den aktuellen Stand und Ablauf der Corona-Impfungen

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